ZeitenSprünge – Angelika Müller


[ redi ad Echo ]


ZeitenSprünge, Interdisziplinäres Bülletin, Jahrg. 12, Heft 3, September 2000, S. 519–531

Die Wiederentdeckung Jesu – einige Streiflichter

ANGELIKA MÜLLER

[ Website der Autorin ]

Als Friedrich Nietzsche feststellte, dass „Gott tot ist?“ weil der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden war, warnte er zugleich vor den Schatten, die dieser Verlust – der keinen ausgleichenden Gewinn mit sich brachte – über Europa werfen werde.
Nicht lange danach stellte Albert Schweitzer in seiner Doktorarbeit als Fazit der
Geschichte der Leben-Jesu-Forschung fest, dass wir von der Person Jesu tatsächlich nichts wissen. Das war der Theologie so unlieb, dass sie ihn lieber als Heiligen in Lambarene sah, denn als Lehrenden an deutschen Universitäten.
Ganz unabhängig von der theologie-kritischen Schule veröffentlichte der Jurist Wilhelm Kammeier in den 20er und 30er Jahren seine Forschungen zur Deutschen Geschichte und zu den Evangelien, denen zufolge sie Produkt einer „großen Verschwörung“ des Papsttums im 14./15. Jh. seien, also kolossale weltgeschichtliche Fälschung.
All das konnte weder der römisch-christlichen Kirche noch dem Glauben an Jesu den Garaus machen, denn den Gläubigen ficht historische Forschung nicht an. Für ihn ist bedeutsam, woran er glaubt, und Jesu ist wirksam, weil er im Glauben mit Bedeutung versehen wird. Andererseits ficht die Wissenschaft nicht an, was mit den Gläubigen geschieht. Sie setzt auf Aufklärung, die wiederum von den Kirchen geschickt als das angebliche Gegenteil von Religion sabotiert wird.
So entsteht die Kluft zwischen den Gläubigen, die der Lehre der Kirche und Theologie folgen, und denen, die an NICHTS glauben und Religion für Humbug halten. Beide werfen heutzutage jene Schatten, von denen Nietzsche sprach.

Da Aufklärung aber ein schwieriges Geschäft ist, besonders wenn es darum geht, Irrtümer der Lehre aufzuklären, verkraftet der Gläubige – der seine Sicherheit aller Aufklärerei zum Trotz im Glauben sucht – manchmal das Neue besser als der Historiker, der nicht gelernt hat, inmitten der Wirrnis neuer Fragen und Sachverhalte seine Sicherheit in der Wahrheitssuche zu finden, geschweige denn, große Ungewissheit zu ertragen.

Nun ist von Carotta mit „War Jesus Caesar?“ [C 1999] ein neuer Vorstoß auf die Lehre der Kirche wie der Historiker gemacht worden. Das preiswerte Paperback täuscht darüber hinweg, dass das Buch keine leichte Kost ist. Man darf gespannt sein, welche theologische und wissenschaftliche Resonanz erfolgt, denn allgemeinstes Fazit ist: In den Evangelien geht es an keiner einzigen Stelle um Religion, sondem stets um politische und militärische Sachverhalte der Caesarvita. Das versehentliche und/oder absichtliche Übersetzungsdesaster vom Lateinischen (Urtext) ins Griechische und zurück ist Entstehungsgrund der Evangelientexte.

Die Verblüffung: Wo es einst Nichts zu finden gab (Schweitzer u. a.), taucht nun die gesamte Lebensgeschichte Jesu auf einmal auf, allerdings als politische Inszenierung oder – wie ich es lieber bezeichnen möchte, weil es den Akzent anders setzt – als römische Profanierung.
Erfolgreiche Entheiligung und Zerstörung religiöser Bedeutungen fand schon immer nicht durch den Nachweis von NICHTS, sondern durch Profanierung statt: Jesus war Cäsar. Das schafft zumindest dem Historiker zwar Unbehagen, aber auch neue Sicherheit. Nun gut. Wer das Buch gelesen hat, wird vermutlich, wie ich, in vielen Fällen und ganz grundsätzlich davon überzeugt worden sein, dass ,irgendwas‘ auf jeden Fall ,dran‘ ist. Nur was genau und wie, das bleibt die Frage.

Carottas Analyse zeigt, dass ihr Gegenstand selbst durch den gleichen Vorgang entstand wie ihr Ergebnis: Das Christentum entstand durch Profanierung mit Hilfe römischer ,Vernunft‘: durch Symbolisch-Machen des Sakralen und Wörtlich-Nehmen des Symbolischen, wodurch die ursprünglichen Bedeutungen schon der nächsten Generation verloren gingen.
Profaniert wurde, wie wir bei Carotta lernen, vor allem der
Venuskult. Den angeblich bei den Römern, vor allem im Heer, verbreiteten Mithraskult erwähnt er nirgends. Dessen Beziehung zum Caesar-Kult bleibt also zu klären.
Carottas Auffassung, die Alten hätten noch gewusst, dass die Götter aus ehemals irdischen Herrschern entstanden seien [C 122], ist eine Herausforderung für die bisher von Autoren dieser Zeitschrift im Gefolge Velikovskys vertretenen These, die Götter seien ehemals Planeten/Himmelskörper gewesen.
Ist Carotta nun moderner Profanierung verdächtig, sozusagen in spätrömischer Nachfolge? Oder hat er Recht, weil die Römer Meister der Profanierung sind? Wieso mutiert z.B. ihr Kult der Göttin Venus/Isis so einfach mit Caesars Tod zugunsten einer „staatstragenderen“ Religion? Wieso kann – selbst wenn man die besondere Situation des Bürgerkriegs berücksichtigt – der Caesar-Kult so zügig „die religiöse Form der Reichseinheit“ werden [C 119]? Das widerspricht allem, was über das enorme Beharrungsvermögen von Kulten und Riten bekannt ist. Da legt sich mir der Gedanke nahe, dass auf mehr bereits Vorhandenes zurückgegriffen wurde.

Carotta zeigt die Lebensgeschichte Caesars als Vorlage für die Evangelien. Andere Autoren haben die Evangelien mythologisch gedeutet. Da muss man doch fragen, wie stark auch Caesar mythologisch entwickelt wurde! Was war die Vorlage der Vorlage? Folgte schon Caesar einem Skript?
Müssen wir Carotta ,gegen den Strich‘ lesen, gar die Datierungen für Jesus und Caesar vertauschen? Beschreibt seine Analyse genau den Prozess der römischen Nutzbarmachung älterer Modelle ?

Vor allem denke ich hier an den Messias als bedeutsame Gestalt: Im Stammesrecht ist er der jeweils lebende erwählte Stammesfürst, der gemäß der Blutrechtsordnung sein Leben im Kampf für die Seinen einzusetzen hat. Ist er gestorben, gehört seine weitere Verehrung als Ahn zum Heroen- oder Wiedergeburtsglauben [vgl. Lüling 1999]. So wie Caesar sich gebärdet, könnte man ihn einen imperialstaatlichen Messias nennen, was bei Unterwerfung zahlreicher Stämme und deren Einbeziehung in sein Heer politisch geschicktes Verhalten ist und die Einigung der Stämme zum Staatsgetüge fördert. Caesar als „guter Hirte“ = Messias-Stammesfürst ist auch Carotta begegnet [C 348], sozusagen als ein profanierter Messias.
Bei noch halbwegs bestehenden blutrechtlichen Strukturen in Palästina wird der Messias allerdings in dem Wunsch nach Vertreibung der Besatzer zu dem
zukünftig ersehnten Befreier, Retter, Erlöser von der Imperialmacht, wofür er mit einer Kraft verbunden wird, die größer ist als die des Imperiums, und dafür kommt nicht mehr irdischer, sondern nur noch kosmischer Ursprung in Frage. So wird der mit allen Attributen eines blutrechtlichen Messias ausgestattete Jesus in den Evangelien auch mit dem hellstrahlenden Morgenstern und Besieger des Luzifer assoziiert und in jüdischen Texten in kosmischen Wehen geboren.

Der bereits vor Caesar nachweisbare „Christus“-Kult (Carotta führt dafür Christos-Helios an [C 420, Anm. 226] gehört samt entsprechenden Riten bzw. Kultspielen ebenfalls zum archaischen Wiedergeburtsglauben: ?Christus? = Messias (der Gesalbte), hier verstanden als der leidende, sterbende, wiederauferstehende und vorbildliche symbolische Ur-Ahn (nicht: Gott!), wie er mit Attis, Adonis, Osiris, Dionysos [vgl. C Anm. 402, 444] usw. als missverstandener „Fruchtbarkeitsgott“ durch die Religionsforschung geistert. Dies scheint mir z.B. Grundlage für die Osterliturgie zu sein [C 71].
Die Mythe vom sterbenden, am Baum hängenden ,Gott‘ ist eine schamanische Vorstellung, Teil der Rituale um Initiation und Wiedergeburt der Natur, die im römisch-katholischen Christentum verpönt waren. Was ursprünglich zu Grunde lag, ob vergangene kosmische Ereignisse und ,Bilder‘, können wir nur vermuten. Der wächserne Caesar am Tropaeum ist Rückgriff auf den Mythos und zugleich Persiflage und Profanierung ohnegleichen, beim Volk erwartungsgemäß wirksam. Das
christliche Kreuz erklärt sich daraus nur sehr mühsam, wie Carottas wiederholte und doch nicht ganz klar werdende Ableitungsversuche zeigen.

Das Christentum entsteht nach Carotta nicht mehr aus einem messianisch-apokalyptischen Strang des Judentums, sondem aus Caesarkult + Judaisierung (= mosaische Gesetze + Messianismus), wobei christlicher Opferkult und Gottes-Sohnschaft aus dem römischen Venuskult stammen. Diese beiden können nun nicht mehr als Relikte eines Rückfalls aus dem Judentum ins Planetengöttertum verstanden werden, sondem entstammen diesem selbst, mit dem Venuskult als Unterfutter und der römischen Neigung zur Profanierung des Sakralen und der Sakralisierung des Profanen (Bsp. Caesar selbst) als Oberleder. Die Forderung nach Abschaffung von Brand- und Schlachtopfem ist Caesars eigene Forderung und keine „originäre jüdische Erfindung“ mehr. Ob sie sich (nur) wegen der späteren Judaisierung nicht durchgesetzt hat, bleibt offen.
Liegt nämlich zeitlich die
Entstehung des Messiaskultes zwischen Caesars Leben und der Entstehung der Evangelien, so konnte es sich beim Messiaskult selbst eher um einen Mythos der Aufständischen gegen Rom als um einen apokalyptischen Rückfall handeln. Dessen Profanierung und Okkupierung wären dann ebenfalls ein raffinierter Schachzug der Caesar-Nachfolger, der posthume Caesarkult samt Evangelienproduktion eine imperialstaatliche Variante des Messiaskultes.
Zur
Gottes-Sohnschaft bleibt, wenn sie denn aus dem römischen Venuskult stammt und somit von Anfang an wesentlicher Bestandteil des Kultes war, zu fragen, wieso es gerade darum in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten soviel Streit gab, falls wir den Quellen glauben wollen. Wie kommt es zu der Aussage, eine Gottes-Sohnschaft habe es bei den Urchristen (in der Folge: Islam) noch nicht gegeben, lediglich Jesus als Menschensohn und Prophet?
Bei Carotta müssen wir umdenken, so als hätte die Kirche (im Nachhinein?) die Reihenfolge und Gewichtung vertauscht:
Ur-Christen sind bei Carotta die radikalen Pauliniker, die das Evangeliurn ohne mosaisches Gesetz, also ohne Judaisierung vertraten und die folglich – da doch wohl ,originär‘ am Caesarkult Orientierte? – die Gottes-Sohnschaft stets mit sich geführt haben müssten. Dies werden nach Carotta die „Häretiker“ der Kirche, woraus zu schließen wäre, dass die Kirche selbst es irgendwann – ca. 150 n.Chr.? – sehr wichtig fand, diese Judaisierung zu vollziehen. Falls es ?die Kirche? damals überhaupt schon gab. Die „Rechtgläubigen“ sind jene, die die Judaisierung wollen und betreiben [C 157, 360]. Wie sie zur Gottessohnschaft stehen, sagt Carotta nicht.
Wurde auch Häretiker, wer nur die Gottessohnschaft ablehnte – wie dies z.B. von Arius behauptet wird – nicht aber die mosaischen Gesetze? Oder muss man für Arius und viele Andere annehmen, dass sie beides abgelehnt haben? Die ohnehin schon recht undurchsichtige Häretikergeschichte wird durch Carotta noch verzwickter. Die Wahrheit liegt hier sicher nicht im Entweder-Oder, und das Gestrüpp früher Kirchengeschichte bedarf neuer Forschungsarbeit.
Nebenbei erhebt sich bei allen neu zu stellenden Fragen noch einmal die nach den Gründen der Feindschaft zwischen Juden und Christen, genauer die Bedeutung der ,Missionskonkurrenz‘ [157] und des Wucherertums.
Eher nebenbei erklärt Carotta den Begriff Christen aus chrestos = Wucherer, Spekulant [143]. Sind Christen jene Judaisierten, die dann chrestos betrieben, wie zuvor [C 143] die Juden? Im AT wie im NT, also für Juden und Christen, gilt das Wucher=Zins-Verbot. Sollen wir annehmen, dass schon römische Kaiser, wie deutsche Kaiser im Mittelalter, den Juden nur dieses Gewerbe überlassen haben?
Wenn Christen Wucherer sind, haben wir der Privateigentumsgesellschaft möglicherweise auch das römische (!) Christentum zu verdanken (s. meinen Leserbrief, S. 538) ?
(Hier sei erinnert, dass bereits 1993 Thomas Riemer christos von griech. chrisis = Gebrauch, Nutzen, Gewinn ableitete und die Christen von griech. chrysoadar, d.s. die Kreuzfahrer, die chrysader. Das Krenz erklärt er damit zwanglos aus dem Schwert [Efodon, 13 u. 16/93]).

Sind auch die frühen kirchlichen Quellen und Texte der ,Kirchenväter‘ unser ganzes Misstrauen wert, so darf es bei den älteren römischen Quellen, auf die sich Carotta stützt, doch keinen Zweifel geben. Oder? Zu Carotta scheint von chronologischen und daraus folgenden Quellenproblemen noch nichts durchgedrungen zu sein.
Bei mir gehen inzwischen aber alle ,Warnlichter‘ an, wenn die Quellenlage Formulierungen folgender Art erzwingt: „müssen wir eine annalistische Quelle vemmuten“, „besonders getreu findet man“; bei Livius scheint fast gar nichts zu stimmen, so dass wir geradezu froh sein kömnen, dass sein Werk „so gut wie verloren“ ist, besonders verloren das Original des so wichtigen Asinus Pollonius usw. [C 221f]. Stutzig machen sollte uns auch, dass alle Quellen, sofern vorhanden, z.B. Sueton, lateinisch waren; aber auch auf lateinisch könnte Sueton, ?der weniger Geschichte als Hagiographie betreibt?, doch bei der Bestattungsszene mal den Namen des Bestatteten (Caesar) erwähnen – was er aber nicht macht. Belegstellen bei Tacitus [C 82, 127] erzeugen ein mulmiges Gefühl, nachdem der ein Produkt der Neuzeit sein könnte (s. Kammeier). Und dann noch: „Sueton ist von Tacitus nicht unabhängig“. Na bestens!
Während sich also Alexander d. Gr. und Karl d. Gr. von der Bühne der Geschichte verabschieden dürfen, wir von den Merowingern vor Karl nichts sicheres wissen, Tacitus, die Evangelien und vieles mehr vielleicht eine Erfindung oder Kompilation des 11. bis 15. Jhs. sind, sind Caesars Taten viel älter, gut bezeugt und über jeden Zweifel erhaben?
Auf jeden Fall ist zu fragen, wann Caesar denn gelebt hat? Dazu die Frage, ob das römische Reich samt Aufstieg, Untergang und Fortführung bisher überhaupt richtig datiert und verstanden ist. Wenn 300 Jahre dabei zuviel sind, Völkerwanderung und ein Teil der Wikingerzeit ein Historiker-Märchen sind, dann ging womöglich das römische Reich nicht auf die Art unter, wie wir in der Schule gelernt haben und hat auch in ganz anderer Weise, als bisher gedacht, existiert. Im Falle dieses Falles (auch die 300 Jahre sind sicher nicht der Weisheit letzter Schluss) hätten wir dann einen neu zu entwirrenden Jesus-Caesar-Vorlagen-Mix.

Vielleicht ist der große Caesar mitsamt seiner sagenhaften Biographie nichts weiter als ein typischer Fall von Caesa, jenem so genannten Kunstgriff, mit dem irische Märchenerzähler die Befehle oder Verpflichtungen in ihren Geschichten unbedingt verbindlich machen und dadurch siegreiche Helden immer wieder auf neue gefährliche Abenteuer ausschicken. In dem Fall wäre nur das R (für Rom ?) hinzugefügt worden, was uns nach Carottas Buch aber nicht mehr weiter wundert.

Zweite Wiederentdeckung Jesu

Mit einer Entscheidung für oder gegen Carotta, Caesar oder Jesus ist es aber nicht getan. Die Menschheit verfügt nämlich mittlerweile über eine weitere, zeitlich vor Carotta liegende Wiederentdeckung Jesu, auf die mich Hans-Ulrich Niemitz aufmerksam gemacht hat:

Erich Bromme: Untergang des Christentums. Korrekturen der Welt- und Religionsgeschichte. 5 Bände, Erich Bromme Verlag, Berlin 1979 (zit. als B)
– :
Fälschung und Irrtum in Geschichte und Theologie. Waldemar Hoffmann Verlag Berlin 1975 (vorab erschienene Zusammenfassung der 5 Bde. Zitiert als BZS).

Vorab sei gesagt, Bromme genügen die deutschen Bibelübersetzungen und er schöpft ganz aus seinem Wissensreservoir. Sein Werk erfuhr bisher kaum Resonanz, vermutlich weil es vom Umfang, Stil und Anspruch her ,erschlagend‘ wirkt. (Es finden sich noch 1979 bei ihm Formulierungen wie „völkisch“, die ihm den Ruf, Nazi zu sein, einbringen könnten. Viele Stellen weisen ihn eher als eine Art ,Freidenker‘ mit großem Hass auf die Kirche aus, der sich politisch weder ,rechts‘ noch ,links‘ zugehörig fühlt. Antisemitische Äußerungen fand ich bisher keine bei ihm.)
Es war mir unmöglich, diese fünf Bände zu lesen. Immerhin habe ich genügend darin herumgelesen, um hier einige Kostproben wesentlicher Arbeitsergebnisse geben zu können. Zunächst erschienen sie mir lediglich auf skurrile, fast beunruhigende Weise interessant, aber zu mühsam für weitere Beschäftigung, vor allem, weil man vergeblich nach einer klaren Darstellung und Entwicklung seiner
Ent-Allegorisierungs-Methode, seiner Prämissen, seiner Arbeitsweise sucht. Sein methodischer Maßstab scheint von der Eingebung abhängig, bzw. neue Entallegorisierungen von zuvor schon gefundenen. Somit sollte man bei allem Folgenden nicht die Möglichkeit ausschließen, dass er einige gute ,Treffer‘ neben vielen ,Nieten‘ hat.
Insofern ist Carottas Entcodierungs-Verfahren, die Ubersetzungen bzw. Schreibweisen im Griechischen und Lateinischen, nachvollziehbarer, präziser und liefert daher mehr ,argumentative Sicherheit‘. Carotta bleibt ,vorlagentreu‘ in der Caesar-Legende ,gefangen‘ oder eng angelehnt (je nach Sichtweise), während Bromme ganz auf die militärischen und geheimen Aufstände und Aktivitäten der Essener im Kampf gegen Rom und damit die zeitgenössische Situation fixiert ist. Darin spielen die Qumran-Rollen von Toten Meer eine wichtige Rolle. Die einzige ,Vorlage‘ sind bei ihm die bereits in den Texten des Alten Testaments gewählten Allegorien.
Hinsichtlich Profanierung oder Aufdeckung von Profanierung und Profanitäten steht Bromme Carotta in nichts nach. Erst durch zahlreiche Ähnlichkeiten seiner Entschlüsselungen zu denen in Carottas Werk wurde ich alarmiert und aufs Neue interessiert. Denn kommen zwei Leute auf unterschiedlichen Wegen zu ähnlichen, von der Lehrmeinung abweichenden Ergebnissen, so ist die Forschung ganz neu gefordert, sowohl was die Ähnlichkeit wie die Unterschiede beider betrifft.
Sollte Bromme mit seiner Entschlüsselung für das Neue Testament nicht ganz falsch liegen, so wird auch an den Ergebnissen zum Alten Testament einiges richtig sein, zumal er vom AT ausgehend einen Bogen zu den Evangelien schlägt.

Seine Ergebnisse sprechen gegen die Heinsohnsche These, dass Geschichtsschreibung als jüdische Erfindung eines kleinen, geknechteten, intelligent die katastrophischen Rituale sublimierenden Volkes in die Welt kam und stützen die These, dass sie als Herrschaftsinstrument (und damit immer zugleich – da interessengeleitet – als Geschichts-(ver)-fälschung) in imperialen Staaten entwickelt wurde.

Die allgemeinste Ubereinstimmung mit Carottas Arbeitsergebnissen besteht in folgender Aussage Brommes:
Die gesamte Bibel enthält nur politisch-militärische Tatsachen, die 3-fach verschlüsselt wurden: Allegorisation = Versinnbildlichung / Dialogisierung / Prophetisierung = Vergangenes als Zukünftiges wiedergeben (hier: Propheten des AT und Evangelisten).

Zur Idee der Entallegorisierung = Entschlüsselung seien ein paar Beispiele genannt: Hure für ,abtrünniges Land‘; Meer oder Wasser für ,Heer‘; Stechmücken für ,Bogenschützen‘, Fischzug für ,Aufständischenmusterung mit anschließender Heeresaufstellung‘.
Bei Carotta ist „der Besessene in den Grabhöhlen, den monumenta“ der „belagerte Pompejus in seinen Verschanzungen“, weil
besetzt und besessen beides obsessus ist [C 165/166]. Bei Bromme steht „besessen“ in den Evangelien stets für „römerfreundlich“ und der „Graben“ für Belagerungsstelle oder Verschanzung.
Carotta erklärt, wie „Rüstungen und Aushebungen“ zur „Taufe“ werden über
lustratio für die Musterung von Soldaten, das von luo = waschen kommt [C 175]. Bei Bromme ist die „Taufe“ die „Einsegnung“ der essenischen Aufstandsteilnehmer gegen Rom, mit der zusätzlichen Bedeutung „zur Teilnahme am Widerstand verpflichten“. Die „12 Jünger“ sind bei Carotta „Caesars Legate“ [C 244], bei Bromme die „Truppenführer in Jesu Aufstandsheer“.

1. Brommes Ausgangspunkt sind die von der Theologie nie verstandenen Aussagen in Mose 2: 4,16; 6,3; 7,: Mose wird von Gott zum „Gott“ über Aaron und Pharao ernannt, Aaron zu Moses „Prophet“, und der Herr-Gott ist zwar Abraham, Isaak und Jakob „erschienen“, sein Name „Herr“ wird ihnen aber nicht offenbart.
Fazit: „Gott“ ist ein Großreichsherrscher, der nicht zu glauben, sondern zu gehorchen verlangt. „Baal“ ist die entsprechende Person auf der Gegen-, auf der Feindesseite. Mit Religion im eigentlichen Sinne hat das alles nichts zu tun.
(Während Carotta den Römern immerhin einige ältere Kulte zugesteht, erwähnt Bromme dergleichen nicht mehr. Brandopfer sind die AT-Umschreibung für gebratene Fleischabgaben als Tribut zur Verpflegung des Statthalters und mutieren erst später zu religiösen Kulten (vgl. 8.)

2. Neben der Gleichung Gott = Großkönig, bzw. irdischer Herrscher entschlüsselt Bromme das alttestamentliche Agypten als chaldäisches Babylonien, das Diensthaus Ägypten als Babylonische Gefangenschaft, Pharao als König von Babylonien. Der Joseph des AT ist König Jojachin, den Nebukadnezar mitsamt seinem Gefolge nach Babylon holen ließ.

3. Die 10. Plage [2.Mo 11f] ist die Darstellung der Einnahme Babylons, die die sogen. Babylon. Gefangenschaft beendete.
Der Untergang der Ägypter im Roten Meer (2:14) ist die Entscheidungsschlacht zwischen Babyloniern (Chaldäern) und Persern (Achämeniden), in der das chaldäische Heer unter Nebukaduezar II. völlig vernichtet wird.

4. Nach dieser Entschlüsselung stellte sich ihm die Frage nach der historischen Abfolge: Im Rahmen seiner Orientierung an der traditionellen Chronologie kommt er zu folgender Korrektur des Geschichtsablaufs [nach BZS 41]:

–> Der biblische Geschichtsablauf –> |
um 1250 bis 926 926 bis 597 597 bis 275
Mose/Diensthaus Rehabeam > Jojachin Babylon. Gefangen-
Ägypten > Salomo schaft > Salomo
Jüngerer Zeitraum: Älterer Zeitraum: Jüngerer Zeitraum:
Ägypten / Kanaan Königreich Juda Babylonien / Kanaan
1.Mose 37,25 – 1.Kön. 11,25 1.Kön. 11,26 - 2.Kön. 24,17 Dito wie 1250-926
2.Chron. 9 2.Chron. 10 – 36,10
| –> Der wirkliche Geschichtsablauf –>

Bromme nennt diese „Zeiträume- und Bereichevertauschung“ „die wohl sensationellste, größte und umfangreichste Falschdatierung in der Geschichte“ [B I,14].

5. Das AT umfasse tatsächlich nur einen Darstellungszeitraum von ca. 650 Jahren (926-275). Das erste umfangreichere Werk ist die Geschichte der Zwangsumsiedlungen aus und nach Kanaan und der Statthalterschaften unter assyrischer, chaldäischer und persischer Oberhoheit. Das kürzere zweite Werk ist die politische Geschichte der beiden Kleinkönigreiche Israel (926-721) und Juda (926-587/82) bis zu ihrem Ausscheiden aus der Geschichte.
Die Werke erscheinen nacheinander, die Inhalte liegen aber teilweise thematisch und/oder zeitlich parallel. Durch das Nacheinanderschalten geriet die Theologie und die Forschung in einen „Zeitraum, für den es keine Quellen geben kann“ [B I,47].

6. Angefangen mit der Gilgamesch-Literatur bis zu den Qumrantexten gibt es eine allegorisierende Literaturgattung, die im Dienste absolutistischer Herrscher stand [B I,9], deren 1. ein „Gott“ genannter akkadischer Großkönig (Kyros II.) ist, deren 2., David, durch einen blutigen Staatsstreich zur Macht kam und deren 3., das Oberhaupt der Essenerorden in Qumran, sich nach Davids Vorbild die Herrschaft gegen die römische Besatzung aneignen wollte.

7. Vermutlich zwischen -330 und -275 nach der Vernichtung des Perserreichs durch Alexander und dem Staatsstreich König Davids verfaßte eine Arbeitsgemeinschaft hoher Bediensteter des persischen Oberherrn in der Provinz Kanaan das ,Alte Testament‘. Sie schreiben mit verteilten Rollen nach dem Vorbild des Gilgamensch-Epos allegorisierte Geschichte vom Eintritt der Königreiche Israel und Juda in die Geschichte um -926 bis auf König Salomo (ca -275). In ihren Mittelpunkt stellten sie den Großkönig Kyros II. den Erlöser aus der Gefangenschaft und Eroberer Kanaans, seiner neuen Reichsprovinz, als anonymen ,Gott‘, und den im Exil in Babylon geborenen jüdischen Königssohn ,Mose‘ (= Ephraim, ca. 586-537) als pseudonymen Heerführer und vorgeschobenen ,Gesetzgeber‘.
Es wurde keine neue Religion zu schaffen versucht, sondem lediglich Geschichte unter besonderen Interessensaspekten allegorisiert: es ging um den Erhalt der persischen Herren- und Besatzungsrechte [I,30fl.

8. Als man Jahrhunderte später von dieser Verschlüsselung nichts mehr wusste, wurden diese Geschichten „infolge von Missverständnissen und Selbsttäuschung sowohl zum Fundament als auch Hilfsmittel für die Schaffung und Erhaltung einer machtgierigen Kultpriesterschaft gemacht“ [B I,31].

9. Eine Einteilung Kanaans auf die „12 Stämme“ kann nicht vor –537 erfolgt sein. Die „Stammesnamen“ sind die Namen der in dem jeweils zugeteilten Landkreis stationierten Besatzungstruppenteile [B I, 49].

10. Ein Gesamtkönigreich Israel – und damit die Reichsteilung – gab es in der Frühzeit nicht. Diese Fälschung sollte dem Reich Davids einen kontinuierlichen Geschichtsablauf und damit ein größeres Alter vortäuschen und den der Reichsgründung anhaftenden Makel verdrängen.
Diese Fälschung habe in der Forschung zu weltweit verbreiteten Irrtümem geführt, die sich als Katastrophe für die Geschichtsforschung und -schreibung über das vorderorientalische Altertum auswirken [B l,159].

11. Aus dem Erzväter-Kapitel: Sara ist ein Heer, Sohn eine Eliteeinheit, Engel die Leibgarde. Der machtpolitische „Bund“ hatte nichts mit dem jüdischen Volk zu tun, sondem war eine assyrische Angelegenheit: er galt für jene Angehörigen der Oberschicht, die der Großkönig als seine Stellvertreter in den Provinzen auserwählt hatte. Die Beschneidung stellte nur die Kennzeichnung des persönlichen Eigentums (Sklaventum) des Großkönigs dar.

12. Wie der „Prophet Daniel“ die Aufstände der chaldäischen Opposition gegen Nebukadnezar II. allegorisiert überlieferte, so schrieben die Evangelisten gleicherweise die Aufstandsgeschichte der Essener gegen die Römerherrschaft. [B lV, 74]

13. Das Fundament der Evangelien und damit das Urchristentum sind ein Produkt des Römerhasses [B IV,108], Christentum ist also ein durch Missverständnisse „phantasiewärts weiterentwickeltes allegorisiertes Essenertum“ [B I, 119].

14. Der „Sohn Jesus“ ist ein dem Qumran-Oberhaupt unterstehendes Essenerheer, eine Kampftruppe [B l, 107]; seine „Mutter Maria“ der Generalstab. Das Esseneroberhaupt selbst wird nun zu „Gott“. Später (?) gibt es einen „historischen“ Jesus, der selbst als Esseneroberhaupt den letzten Aufstand anführt.

15. Der „Kindermord zu Bethlehem“ ist eine Essenerverfolgung nach deren erstem Aufstand.

Zusammenfassung und Ausblick:

Die Menschheit verfügt nun also über:

Ziel dieser Kurzfassung soll sein, auf dies Werk hinzuweisen und die Beschäftigung damit anzuregen. Ich bin neugierig zu erfahren, ob und wie es Leser/innen gelingt, die diversen Thesen zu einer epochalen Synthese zu vereinen oder sich ohne Verlustgefühle für eine gegen die anderen zu entscheiden.
Schon jetzt lässt sich feststellen, dass die Bibeltexte zu den bestgemachten Texten der Weltgeschichte gehören, beurteilt man dies nach der Fülle dessen, was man aus ihnen machen kann. Ein keltisches Sprichwort sagt, man solle eine gute Geschichte nicht durch die Wahrheit verderben. Für die Historie sehe ich da bisher keine Gefahr.

Literatur

Angelika Müller 12059 Berlin, Elsenstr. 43

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NOTA BENE: Die Rezensentin trifft den Nerv, wenn sie sagt, daß Historiker mehr Probleme mit der Aufdeckung, daß Jesus Divus Julius ist, haben dürften, als Gläubige. Es deckt sich mit meiner Erfahrung. Es kommt nicht von ungefähr, glaube ich, daß die Autorin des Nachwortes, Prof. Erika Simon, nicht nur eine couragierte Archäologin ist, sondern auch eine gläubige Katholikin. Allgemein kann ich bestätigen, daß ich in den Universitäten Religionshistoriker oder auch Theologen eher gesprächsbereit fand, als Historiker. Gläubige scheinen in der Tat freier zu sein, auch intellektuell, denn sie beziehen ihre Sicherheit woandersher.
Ob es darüberhinaus stimmt, daß die Kirchen Angst vor der Aufklärung haben, vermag ich so wenig zu bejahen, wie die damit verbundene Behauptung, daß die Wissenschaft auf Aufklärung setzt. Denn es gibt Aufklärung und Aufklärung, und wie es mir scheint, sowohl in der sogenannten wissenschaftlichen Theologie als auch bei manchen kritischen Historikern, wird unter dem Mantel der Aufklärung bisweilen mehr an Phantastischem und Erleuchtetem wiederhineingeschmuggelt, als das, was man angeblich bereinigt. Und daß die Kirche immer versucht hat, die Tradition vor den Angriffen selbsternannter Aufklärer zu schützen, ist nicht in allen Fällen falsch, wie wir immer wieder, und auch in diesem Fall konstatieren. Und das ist nicht zu beheben. Wissenschaft ist immer perfektibel, das Absolute aber nicht. Die Gefahr der Verschlimmbesserung ist daher immer gegeben. Am Ende könnten doch jene recht behalten, die keinen Aggiornamento mitgemacht haben. In unserem Fall: Die Protestanten, die fortschrittlich auf sola scriptura, auf die Schrift allein gesetzt haben, stehen ganz blöd da, wenn sie feststellen müssen, daß gerade die Schrift verfälscht ist. Während die altmodisch Zurückgebliebenen, die die Tradition nicht opfern wollten, plötzlich rehabilitiertes Gut in der Hand haben: Selig die Armen im Geist ?

Der Hauptverdienst dieser sehr eingehenden und durchdachten Rezension besteht in der Beobachtung, daß hier zwei Leute auf unterschiedlichen Wegen zu ähnlichen, von der Lehrmeinung abweichenden Ergebnissen kommen – nämlich daß sowohl das Neue als auch das Alte Testament ursprünglich die Taten des „Herren“ berichteten, die da waren zuerst die politisch-militärischen – und daß dadurch die Forschung ganz neu gefordert [ist].

PROFANIERUNG

Allerdings sieht die Rezensentin darin eine „Profanierung“ und scheint damit in unserem Fall eine doppelte zu meinen: Jesus auf Caesar zurückzuführen die spezifische, das Christentum auf die Römer die allgemeine.

Dies bedeutet natürlich zuerst die Tatsachen auf den Kopf zu stellen. Wenn die Evangelisten aus den Taten des „Therapeuten der Republik“ (Plutarch über Caesar) die Handlungen eines Wunderheilers machen, wer profaniert da was? Der Evangelist, der das tat, oder wir, die wir das aufdecken? Und zweitens: Ist der Therapeut der Republik profaner als ein vulgärer Wunderheiler? Wenn Caesars Taten darin bestanden, den egoistischen und unheilvollen „Senat“ zu bekämpfen, der Evangelist aber daraus den Streit Jesu gegen „Satan“ macht – was ist profaner: Der Pontifex maximus im Streit gegen den Senat, oder ein Nullachtfünfzen-Exorzist gegen Satan?

Ich darf außerdem darauf aufmerksam machen, daß zur ersten Annahme – Jesus sei laut These Caesar –, der Titel des Buches verleitet: „War Jesus Caesar?“. Titel sind aber Sache der Verlage, bekanntlich. Im Text steht aber ausdrücklich (S. 351 f), Ergebnis der Untersuchung sei, daß Jesus Divus Julius ist. Es ist nicht dasselbe. Menschen können zu Göttern werden: wie Alexander zu Zeus Amon, wie Romulus zu Quirinus, so Caesar zu Divus Julius. Aber Götter werden nicht: Gott ist, war und wird sein, ewiglich. Dem Prinzip nach wenigstens, denn auch die Götter scheinen ihre Lebenszeit zu haben: Amon und Quirinus, leben sie noch? Jedenfalls, dem Prinzip nach, gehören die Götter zur Ewigkeit. Stirbt der Mensch, der zum Gott wird, so wird er ipso facto für die Ewigkeit als Gott geboren. Was der Atheist Vespasian mit schwarzem Humor ausdrückte, der, als er sich dem Tode nahe fühlte, gesagt haben soll: «Ich fürchte, ich werde Gott».
Zwischen dem Menschen, der zu Gott wird, und dem Gott, zu dem er wird, besteht ein ähnliches Verhältnis, wie zwischen der Raupe und dem Schmetterling: Die Raupe wird zum Schmetterling, aber welches Kind wird wirklich glauben, der Schmetterling sei je eine Raupe gewesen? So etwas kann man wissen, aber glauben? Das Gefühl der Profanierung setzt ein, sobald man sich vorstellt, Jesus sei Caesar gewesen, denn man setzt einen lebendigen Gott mit einem toten Mann gleich: Es riecht nach Verwesung. Man setzt Jesus herunter zu Lazarus: Herr, er riecht schon! Wenn man aber sagt, Divus Julius ist zu Jesus mutiert, wo bleibt da die Profanierung?

Die Frage ist dann eine andere: Können Götter mutieren? Und sie ist leicht mit ja zu beantworten.
Um ein anderes, technischeres Bild, als das vielleicht allzu poetische der Raupe und des Schmetterlings zu verwenden: Der Mensch, der zu Gott wird, ist wie die Trägerrakete, die den Satelliten auf Orbit schießt. Sie fällt wieder herunter, zerglüht in der Atmosphäre oder versinkt in den Ozean. Und wenn der Satellit kreist, wen kümmert es, welche Trägerrakete ihn hochgeschossen hat? Die Identität des Satellits bestimmt die Fahne, die darauf gehißt wird – und die kann wechseln, wie die Pavillons der Öltanker auf hoher See.
In der Antike mutierten die Götter ganz normal und legal, aufgrund der „interpretatio“: Die interpretatio romana machte aus Zeus, Ares, Aphrodite und compagnia bella, Jupiter, Mars und Venus – die interpretatio graeca umgekehrt. Divus Julius scheint zu Jesus im Zuge zweier sukzessiven Interpretationen geworden zu sein: eine interpretatio graeca, worauf eine judaica folgte. Divus Julius Pontifex maximus wurde zuerst zu Jesus Christus, um dann als der erwartete Messias gesehen zu werden.

Warum sollte nun – um auf unsere Ausgangsfrage zurückzukommen – das Aufdecken dieses Prozesses eine Profanierung darstellen? Etwa deswegen, weil man den Römern als sogenannten Heiden jegliche Religiosität abspricht?
In Wirklichkeit aber war es umgekehrt, daß man den Römern eine besonders tiefe und allumfassende Religiosität zuerkannte, die jedenfalls allen anderen Volksgenossen auffällig war, so Polybios, der schrieb (6, 53):

Umgekehrt vermochten die Römer bei manchem anderen Volk, namentlich bei den Juden, höchstens Aberglaube zu erkennen (cf. Sueton, Tib. 36,1: ... Iudaicosque ritus ... qui superstitione ea tenebantur ...; Nero 16,2: ... Christiani, genus hominum superstitionis nouae ac maleficae). Nicht zufällig wurden ihnen und in dem Sog bisweilen auch den Christen, den Prozeß wegen Gottlosigkeit gemacht.
Könnte es aber sein, daß unsere Vorstellungen eher von Hollywood (Quo vadis? Ben Hur, etc.) geprägt wurden, und unbewußt vielleicht noch werden, als von historischem Wissen?
Oder hat es mit der modernen Trennung von Religion und Staat zu tun, so daß uns die Vorstellung, daß bei den Römern die Religion nicht nur das private, sondern auch und vor allem das öffentliche Leben regierte, völlig fremd geworden ist?

Es könnte natürlich aber auch sein, daß man weiß, daß Caesar, nicht anders als genannter Vespasian, selbst sehr skeptisch gegenüber abergläubischen und wohl auch religiösen Vorstellungen stand. Sogar einem Leben nach dem Tod schenkte er keinen Glauben, empfahl er doch laut Sallust, die Catilinarier u.a. deswegen nicht hinzurichten, weil der Tod das Ende nicht nur aller Freuden sondern auch aller Leiden sei. Besteht die Profanierung etwa darin, daß man mit Caesar, als dem menschlichen Ursprung für Divus Julius und Jesus, einen Atheisten zum Gotte machte?
Nun, so naiv dürfen wir aber nicht sein. Denn um Gott zu werden, muß der Mensch atheist sein. Mindestens. Denn Gott selbst ist athee. Würde er nämlich an Gott glauben, so wäre ein anderer Gott, nicht er. Was übrigens Caesar selbst im Munde führte, als er laut Cicero Euripides zitierend, zu sagen pflegte: «Brichst Du das Gesetzt, dann aber um den Preis der schönsten Tyrannei, ansonsten sei fromm und beachte die Gesetze» (cf. Suet. Div. Jul. 30).
Ist der Atheismus aber Voraussetzung für die Gottwerdung, so vermag man auch hierin keine Profanierung auszumachen.

Worin soll sie also bestehen? Etwa darin, daß Divus Julius ein falscher Gott gewesen sei, wie etwa die sich selbst vergötternden Caligula, Nero oder Domitian, Jesus dagegen ein wahrer? Und doch weiß man, daß genannte Kaiser nur deswegen Fluch und Schimpf ausgesetzt wurden und sind, weil sie der damnatio memoriae, der Verfluchung des Andenkens verfallen. Caesar aber ist das nicht widerfahren, im Gegenteil: Durch den Willen des Volkes, das bei seiner Beisetzung sich gegen seine Mörder empörte, wurde er zum Gott erhoben. Das Volk erwirkte es, und zwang es dem widerspenstigen und gespaltenen Senat auf. Darum ist Divus Julius ohne Zweifel und wie kein anderer ein wahrer Gott, denn wer entscheidet über den wahren und falschen Gott, wenn nicht das Volk, in seiner tiefsten Überzeugung? Ist etwa der Volksaufstand bei Caesars Beisetzung ein minderer Zeuge für die Himmelfahrt des Divus Julius als das leere Grab für jene seines alter ego Jesus? Hier ein Volk, bestehend aus allen Nationen des Weltreichs, das wie ein Mann aufsteht und seinen Gott in den Himmel hebt, dort ein paar Frauen, die ein leeres Grab feststellen; hier ein positiver, ja universeller, öffentlicher Akt, dort eine negative, individuelle, private Wahrnehmung: Wer profaniert hier was? Auf welche Seite wird die Waage, die Religiöses und Profanes aufzuwiegen hätte, wohl fallen?

Und doch hat die Rezensentin Profanierung ausgemacht, und irgendwo wird sie wohl liegen, jene, die sie meint.
Vielleicht liegt sie ganz bei uns. Seitdem sich Erasmus und Luther untereinander ihr Gut aufgeteilt haben, dem einen das Wissen, dem anderen der Glaube, dem einen die Universität, dem anderen die Kirche, gehen Wissenschaft und Theologie getrennte Wege – und schon von wissenschaftlicher Theologie zu sprechen ist eine Profanierung. Wie kann Theologisches Gegenstand von Wissenschaft sein, wenn Theologie selbst der Anfang der Wissenschaft darstellt?
Um hier nicht ins Philosophische auszuufern, sei stattdessen daran erinnert, daß jene angesprochene moderne Trennung des laizistischen und sakralen Gebiets, dazu geführt hat, daß der Caesar, den die heutigen Althistoriker meinen, nur der Diktator, der Feldherr und höchstens noch der Schrifsteller sein kann und darf: Der Pontifex maximus, Sohn der Venus und selbst Gott wird zum Gegenstand isolierter Sonderuntersuchungen gemacht – etwa im Zusammenhang mit dem Kaiserkult – und als solchen weggeblendet. Man braucht nur die letztbeste Veröffentlichung über Caesar in die Hand zu nehmen oder ein Seminar über ihn in einer Universität zu besuchen, um festzustellen, daß die historische Betrachtung Caesars mit dessen Ermordung endet: Die Beisetzung wird vorsichtshalber weggelassen, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, Sakrales ansprechen zu müssen – obwohl es eine gute Frage wäre, ob es nun die Beisetzung eines Menschen nicht zu dessen Leben gehört. Nie, in keiner Biographie der Antike oder auch unserer Zeit, wird das Funeral weggelassen: Nur für Caesar tut man das, wohl mit Methode. Warum wohl? Und: Ist das keine Profanierung?

Nun, worin liegt die Profanierung, die man hier wittert?
Wir sind auf eine inhaltliche Antwort zurückgeworfen. Wenn Gott der lange Schatten des Weltherrschers ist, wenn Gott nicht zufällig der Allmächtige genannt wird, weil er bereits der All-Mächtige war, bevor er Gott wurde, mit und durch seine Macht zum Gott geboren, dann ist ER allein berechtigt, über sich selbst zu sprechen – das heißt: Die Macht allein ist berechtigt, über die Macht zu sprechen. Daß die Verkündung seiner irdischen Identität nicht von ganz oben verordnet ist, besteht darin die Profanierung? Macht sich der, der das sagt und schreibt, und jeder, der es hört und liest, vor allem jeder, der es weitersagt und -schreibt, der Sünde schuldig, gottgleich zu sein, indem er dessen Identität preisgibt? Wenn ER nicht zufällig zu einem deus absconditus, einem àgnostos theòs, einem verdeckten, unbekannten Gott geworden ist, wer autorisiert einen, ihn zum bekannten machen zu wollen? Ist das Wissen über ihn erlaubt? Wenn darin die Profanierung bestünde, dann stünden wir vor der Frage, ob Theologie, mehr noch, ob Religion auf Wissen gründen kann, und nicht auf Glauben. Eine zwar nicht neue Frage, denn die Kultoren des Divus Julius taten es anfänglich nicht als Unwissende, und ihnen war eher die fides, die Treue ein Leitsatz als das credo, das Glauben. Für uns aber, die seit jener ominösen Einführung des credo von Glaubenskrieg zu Glaubenskrieg immer tiefer in das Mittelalter des Wissens versunken sind, ist es zweifelsohne eine ganz unübliche Vorstellung und ein unheimliches Gefühl. Das Wissen darüber jedoch, daß in puncto Skepsis und Autonomie des Geistes Caesar keinem nachstand, kann Divus Julius für uns Nach-Wissen-Strebenden einen Ankerpunkt bieten.

PARALLELEN

Die Rezensentin hat die Parallelstellungen von Carotta und Bromme als „mehr“ und „weniger“ überzeugend jeweils hingestellt. Ich danke für die vorzügliche Behandlung, aber darauf kommt es nicht an, denn sonst würde das entfallen, was am Anfang der Rezension als positives Ergebnis dargestellt wurde, nämlich, daß den Historikern eine neue Sicherheit daraus erwächst, und man würde bei all den Hypothesen, die am Schluß derselben aufgelistet werden, sich nicht mehr entscheiden können – wie es der Rezensentin dann auch tatsächlich ergeht.

In dieser Art von Dingen geht es nicht um mehr oder weniger, sondern um ja oder nein. Ein bißchen schwanger, gibt es nicht. Entweder ist Jesus Divus Julius, oder nicht. Es geht nicht um ein weiteres Mosaiksteinchen im Synkretismus-Puzzle als Gesellschaftsspiel der mehr oder minder Gelehrten, bzw. aller Möchtegernlöser des Jahrtausend-Geheimnisses. Es ist wie mit Champollions Lösung des Hieroglyphen-Problems: Entweder stimmte die Lösung – sie sind eine Schrift und keine Bilder –, oder stimmte sie nicht. Sie stimmte, offensichtlich – den Hieroglyphendeutern zum Leid, die mit ihren allegorischen Interpretationen bis dahin die Salons ganz Europas ergötzt hatten.

In diesem Fall muß man also sehen, ob die beobachteten Parallelen zwischen dem Evangelium Marci und den ältesten die Vita Caesaris überliefernden Quellen – i.e. im wesentlichen Appian, Plutarch und teilweise Sueton – auf Zufall zurückzuführen sind, oder auf eine Filiation hindeuten, auf einen Ursprung aus einer gemeinsamen Quelle. Welche in erster Annäherung in den verlorenen Historien des Asinius Pollio vermutet werden darf, sofern es stimmt, was allgemein angenommen wird, nämlich daß Plutarch und Appian, dort wo sie miteinander konform gehen, Asinius Pollio benutzen (cf. u.a. E. Gabba, Appiano e la storia delle guerre civili, Firenze 1956, sowie seine Introduzione zu Appiani bellorum civilium liber primus, Firenze 1958). Es stellte sich nach Überprüfung heraus, daß dies der Fall ist.

Dies einmal festgestellt, hilft es dann nicht mehr, die Quellen selbst in Zweifel zu ziehen, etwa nach dem Motto, da mancher die Authentizität der Annalen des Tacitus in Frage stellt, mancher anderer jene der Kaiserviten des Sueton, dann warum nicht alle verfügbaren antiken Quellen zu Fälschungen zu erklären und sagen, daß sie samt und sonders etwa von Poggio Bracciolini fabriziert wurden. Das hilft insofern nicht mehr, denn dann bleibt immer noch zu erklären, warum die beobachteten Parallelen zwischen Appian und Plutarch einerseits und Markus andererseits vorkommen. Wenn der Hyperkritiker als ultima ratio dahin zurückgeworfen ist, die historische Existenz Caesars in Frage zu stellen, dann ist er buchstäblich am Ende seines Lateins angekommen. Denn dann wird er in der Folge auch Rom selbst als Erfindung hinstellen, konsequenterweise vielleicht die lateinische Sprache als von den Humanisten geschaffen, und wenn schon denn schon das Christentum selbst als eine Behauptung der Medien und die Kirchen als eine Theaterkulisse. Dasselbe dann für Islam und Moscheen. Fragt sich nur dann, warum es Religionskriege gab und gibt: Streitigkeiten unter Zuschauern, die in den falschen Film geraten sind?

Daß die Hyperkritiker am Ende ihres Lateins sind, zeigen die verzweifelten Versuche, mithilfe abenteuerlicher Etymologien, etwa Asinius Pollio zum Schatten eines Orientalen zu machen, oder, damit es besser paßt, von zwei verschiedenen, und ihn schlußendlich in die Luft aufzulösen – wie z.B., um dort vorzugreifen, Peter Winzeler in ZeitenSprünge 4/2000 tut: ... Asinius Pollio (der mir eher einem verballhornten Assurnasirpal = Pulu/Pollio oder allenfalls Bileam und seinem Esel gliche) (Endnote 6, S. 608).
Aber, bitte schön, wenn schon beliebig, warum nicht Vergils Mutter bemühen, die Magia Pollia hieß, warum nicht mit dem norditalienischen pollia (Aussprache poja), was Bussard bedeutet, vergleichen? Und gibt es nicht ähnliche Namen auch in anderen Sprachen, ist man sicher, daß jener Name nicht auch auf Armenisch, Ägyptisch, Syrisch oder Punisch in irgeneiner Form vorkommt? Warum machen derartige zufällige Ähnlichkeiten allesamt keinen Sinn, und dagegen der Vergleich zwischen dem Asinius Pollio der Caesarbiographie mit dem Eselsfohlen des Evangelium Marci einen macht? Weil hier eben ein Kontext gegeben ist, die jeweiligen Namen an den strukturell sich entsprechenden Stellen vorkommen, weil dieser nicht der einzige Fall ist (er steht in einer Reihe mit Caecilii > Blinde und Claudii > Lahme) und weil die Tatsache, daß der eine Evangelist Eselsfohlen hat, der andere nur Esel, sich einfach dadurch erklären läßt, daß der eine in seiner Vorlage Asinius hatte, der andere stattdessen Asinius Pollio.
Last but not least: Der Hauptunterschied liegt darin, daß im letzten Fall es ausreicht, dem Evangelisten zu unterstellen, eine Verballhornung gemacht zu haben (was bei Kopisten und Übersetzern nicht unüblich war, zumal angesichts des miserablen Niveaus der evangelischen Koinê), während in den anderen Fällen man selber welche produzieren muß – was nicht gerade die Aufgabe eines Wissenschaftlers bzw. Philologen sein sollte. Oder?

KREUZIGUNG et alia

Die Rezensentin hat weiterhin kritisiert, daß der Vergleich zwischen Caesars Ermordung und Jesu Kreuzigung nicht überzeugend gelungen sei, trotz mehrerer Anläufe.
Es stimmt zwar, daß dieser Komplex von verschiedenen Gesichtspunkten beleuchtet wurde. Aber der Vergleich hinkt nur dann, wenn man die Kreuzigung Jesu als gesichert annimmt. Sie ist aber infirmiert von gewaltigen Zeugen, nämlich u.a. vom Koran – 4.157: «Sie ... kreuzigten ihn ... nicht, sondern es wurde ihnen nur vorgespielt» –, während die Erdolchung Jesu u.a. von der Offenbarung des Johannes belegt wird, die 1,7 anführt: «... und alle, die ihn durchbohrt haben, ...» – die graeca veritas hat hier exekéntêsan, was zwar gängig mit durchbohrten übersetzt wird, müßte aber korrekt mit erdolchten übersetzt werden, wie die Vulgata bestätigt, die pupugerunt sagt (von pungo, (er)stechen, cf. pugio, pugionis, Dolch).

Andere Fragen, etwa, wo der Mithras-Kult bleibe, sind nicht so relevant, und auch leichter zu beantworten: Besagter Kult breitete sich in den Legionen später aus, ab dem 2. Jahrhundert, als in Folge der Orientfeldzüge auch im Osten rekrutiert wurde. Da stand der Divus-Julius-Kult bereits, und dessen Variante Christentum wohl schon auch.

Ähnliches ließ es sich über den Messias-Gedanke sagen. Dieser taucht für die Römer erst mit Herodes auf, der als Messias angesehen wurde. Von Bedeutung wurde er mit dem jüdischen Krieg, als die Aufständischen sich auf die Prophezeiung beriefen, daß in jenen Tagen aus Judäa der Herr der Welt ausgehen werde. Prophezeiung, die der zu den Römern übergelaufene Josephus auf Vespasian übertrug (womit er zum „Flavius“ Josephus avancierte und die Geschichte dann schreiben durfte). Zu dem Zeitpunkt, ab 70 post, soll die Endredaktion der Evangelien stattgefunden haben, und auf diese eben letzte Fassung hat der Messiasgedanke Einfluß gehabt, nicht jedoch beim Entstehen der dahinterliegenden Vita Divi Julii. Bei der sollte man eher an original römische Vorstellungen denken – Präzedenzfall für Rom: Himmelfahrt des Romulus (auch von den Senatoren ermordet); oder für das jülische Haus: Äneas, der aus Troja fliehend nach einer Fahrt in die Unterwelt den Grundstein Roms legt –, bzw. an ägyptische – Anwesenheit der Kleopatra in Rom: Caesar als neuer Osiris (und folglich Kleopatra als neue Isis, das gemeinsame Kind Ptolemaios Kaisarion als neuer Horus).
Daß der Messias-Gedanke dem hellenistischen Heros etwas verdankt, verwundert nicht, zumal er, wie es scheint, erst nach der Gleichsetzung Jesus-Christus-Messias die Bedeutung angenommen hat, die er seitdem hat.

Schließlich gibt es einige Mißverständnisse. Zum Beispiel habe ich nie Christen aus chrêstês = Wucherer, Spekulant, erklärt. Ich habe nur gesagt, daß, in den besagten Quellen über den dem Nero zugeschobenen Brand von Rom, die Kopisten, nicht zuletzt auch die kritischen Editoren, die von Nero bestraften chrêstoi = Wucherer, Spekulanten, irrigerweise für von ihm gemarterten Christen gehalten haben. Das ist nicht dasselbe, eigentlich das Gegenteil. Ich will aber alle Mißverständnisse nicht durchgehen, denn sie werden jenen schon aufgefallen sein, die das Buch gelesen haben.

ZEITSPRUNG

Was mich am meisten gewundert hat, ist was in der Rezension fehlt, nämlich der Hinweis, daß wenn Jesus auf Caesar zurückgeht, unsere Zeitrechnung um 100 Jahre verschoben ist (Caesar geboren 100 vor Christus) – was eigentlich die Leser von einer Zeitschrift namens ZeitenSprünge interessieren müßte (oder sind 100 Jahre eine Bagatelle?).

Der Mönch Dionysius Exiguus, der im 6. Jahrhundert das Jahr 1 rund 100 Jahre nach Caesars Geburt setzte, tat es bekantlich als Nebenprodukt seiner Hauptaufgabe, die darin bestand, das Datum des historischen Ostern – d.h. des Todes und der Auferstehung Jesu – festzulegen. Wenig gewürdigt ist bis jetzt geblieben, daß er es auf das Jahr 31 festlegte, d.h. 76 Jahre nach der Einführung des Kalenders durch Caesar, 45 ante. Nun diese 76 Jahre sind im spezifischen Fall, d.h. bei der Komputation der mobilen Osterfeste, eine noch rundere Zahl als jene 100, ja sie sind die runde Zahl überhaupt, fallen doch nach Berechnung der Alexandriner nach 76 Jahre alle Osterfeste wieder in derselben Reihenfolge, weil der Mondzyklus rekurriert. Man braucht also, um alle Osterfeste in aller Ewigkeit festzulegen, nur eine Tabelle mit 76 berechneten und einen Anfangspunkt: das – kalendarisch ermittelte – „historische“ Osterdatum. Das heißt, Dionysius Exiguus hatte sowohl Todes- als auch Geburtsdatum Jesu nach Caesar gerichtet: Das Todesdatum ein 76jähriger Osterzyklus nach Einführung von Caesars Kalender am Vorjahr seines Todes, das Geburtsdatum 100 Jahre nach Caesars Geburt. Das Ergebnis war, daß Jesus jünger starb als Caesar (30 statt 56 Jahre alt), was aber zum ideellen Alter eines göttlichen und daher immer jungen Heros besser paßte, vor allem war der inzwischen unterstellte Tod unter Pontius Pilatus möglich. Daß dadurch der betlehemitische Kindermord chronologisch unmöglich wurde, weil der angebliche Täter Herodes vier Jahre vor Christi Geburt zum Sterben kam, war anscheinend weniger wichtig als die Verankerung von Geburt- und Todesdatum Jesu bei Caesar. Die Kontinuität mit Caesar war Dionysius und den ihn beauftragenden Papst und Patriarchen wichtiger als das Plausibelmachen der erdachten Delokalisierung von Rom nach Jerusalem. Die Jahre konnte man weiterzählen wie gehabt, nur bei den Jahrhunderten hatte man einen Sprung, was aber 6 Jahrhunderte später kaum auffiel, zumal Ostern weiterhin nach dem Julianischen Kalender komputiert werden durfte.

Für die Zeitensprüngler interessant: Nimmt man an, daß die alte Zählung nach Caesars Geburt von manchen „Häretikern“ nicht aufgegeben wurde, koexistierten dann ab dem 6. Jahrhundert zwei Zeitrechnungen, die um ein Jahrhundert von einander abwichen. Wie lange? Verlor man einfach im Laufe der Zeit die Erinnerung daran, oder wurde dies irgendwann abgeglichen? Und wann? Etwa bei der Kalenderreform des Gregor? Dem nachzugehen überlasse ich den – sicher kompetenteren – Mediävisten.


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