Clementia Caesaris


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Clementia Caesaris: Taktik oder Strategie?

Ethelbert Stauffer: Die Versöhnungspolitik Julius Caesars

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CLEMENTIA CAESARIS – TAKTIK ODER STRATEGIE?

Haec nova sit ratio vincendi, ut misericordia et liberalitate nos muniamus – «diese sei die neue siegbringende Strategie: daß wir uns mit Barmherzigkeit und Freisinn wappnen»: So definiert Caesar in einem Brief an Cicero (Cic. ad Att. 9,7 c) Sinn und Tragweite seiner unerhörten clementia. Ethelbert Stauffer, (Jerusalem und Rom im Zeitalter Jesu Christi, Bern 1957, p. 20) übersetzt: «Das muß die neue Siegestaktik und Sicherheitspolitik sein, daß wir Vergebung üben und eine freie und festliche Welt schaffen».

Gemeint war, daß während Pompeius am Anfang des Bürgerkriegs alle zu Staatsfeinde erklärt hatte, die nicht auf seiner Seite standen, Caesar bekundete, daß er umgekehrt alle Neutralen als Freunde behandeln würde. Das brachte ihm natürlich enormen Zulauf, denn den Bürgerkrieg wollten die meisten nicht. Und nach dem Sieg, statt sie wie einst Sulla mit Proskriptionslisten zu verfolgen und ermorden zu lassen, verzieh er seinen Feinden, ja er setzte sie in Amt und Würde wieder ein. Mehr noch, er ließ die Akten des Pompeius, die ihm in die Hände gafallen waren, verbrennen, damit er nicht einmal selbst weiß, wem er allen verziehen hatte. Schließlich verabschiedete er seine Leibgarde und vertraute dem Wort der Senatoren, die sich feierlich zum Schutz seiner Person verpflichtet hatten, wie er sich ihrer. Freilich nutzten die Verschwörer das aus, um ihn zu ermorden. Unter ihnen waren auch welche, die er zu seinen Erben ernannt hatte. Dieser Umstand machte das Volk so verbittert, als das Testament verlesen wurde. So wurde die mißbrauchte clementia Caesaris den Caesarmördern zum Verhängnis. Das Volk hatte entschieden: Ihm war die Freiheit, die Caesars liberalitas begründete, wichtiger als die Freiheiten, die die liberatores heraufbeschworen.

Die clementia Caesaris wurde von niemandem je geleugnet, nicht einmal von Brutus selbst: Er ermordete Caesar nicht etwa, weil er dessen clementia verlogen fand, sondern weil eine Freiheit von Caesars Gnaden ihm als keine erschien. Das ist etwas anderes. Auch die Kirchenväter attestierten Caesar echte Gesinnung und Opferbereitschaft. Orosius zum Beispiel (Hist. 6.17.1) schrieb: «Julius Caesar ging unter bei dem Versuch, die politische Welt entgegen dem Beispiel seiner Vorgänger im Geiste der Clementia neu aufzubauen».

Die Historiker aber, die heutzutage die Geschichtsbücher unserer Kinder schreiben, sehen es anders. So schreibt zum Beispiel H.J. Gehrke in seiner im letzten Herbst erchienenen (also zeitgleich mit unserem War Jesus Caesar?) Kleine Geschichte der Antike, München 1999: «Schließlich triumphierte Caesar auf der ganzen Linie, nicht zuletzt auch wegen seiner berühmten clementia, einer taktisch motivierten Milde im Umgang mit den besiegten Gegnern.»

Diese Position steht auf schwachen Füßen – «taktisch motiviert»: Da hätte Caesar also, der große Stratege und unvergleichliche Taktiker, völlig daneben gelegen, gerade im Wesentlichsten, denn er ging ja daran zugrunde –. Sie wird aber, seitdem wir Republiken haben und verstärkt in der Nachkriegszeit, erfolgreich, ja fast unangefochten, vertreten, weil sie politisch korrekt ist: Wir sind ja alle républicains und – natürlich – Anticaesarianer, mehr noch: Brutianer. So werden in allen betreffenden historiographischen Publikationen gesinnungsverratende Texte und Bilder zum Lobe des Brutus gebracht, denen als Gegenaltar die Lobgesänge auf den Judas in der theologischen Literatur beantworten. Nur, politische Korrektheit bedeutet immer Geschichtsfälschung. Die Fahne der gerade gültigen politischen Korrektheit wechselt, politisch korrekt bleibt man. Und das haben sie, unsere Nachkriegsintellektuellen, mit ihren Vorkriegsvätern gemeinsam: Sie sind beide politisch korrekt, die jetzigen sogar pflichtbewußter und verbissener, denn die damaligen haben sich ja geirrt – und waren feige: Unsere sind mutig – im Bekämpfen bereits besiegter Ideologien!

Und so wird das Kind mit dem Badewasser weggeschüttet …

Um den Ton einer anderen Glocke vernehmen zu lassen, wollen wir hier zwei Texte vom o.g. Ethelbert Stauffer dokumentieren, der einige unter den antiken Quellen zitiert und magistral verarbeitet: Anbei zuerst ein Kapitel über die Clementia Caesaris (aus Christus und die Caesaren), ein zweites, über Caesars Beisetzung (aus Jerusalem und Rom im Zeitalter Jesu Christi), findet man an anderer Stelle.


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Ethelbert Stauffer

DIE VERSÖHNUNGSPOLITIK JULIUS CAESARS

[aus: Christus und die Caesaren – Historische Skizzen, Hamburg 1952, S. 40–52
© Friedrich Wittig Verlag – mit freundlicher Genehmigung]

Das Buch ist den
FRATRIBUS PEREGRINANTIBUS
gewidmet und mit dem Motto versehen:
SALUTAMUS VOS IN NOMINE VENTURI SECULI,
UNDE PAX ADVENTAT A CONSTITUTIONE MUNDI



Im Jahre 133 vor Christus setzte der römische Volkstribun Tiberius Gracchus eine großzügige Bodenreform ins Werk, um das soziale Leben der breiten Massen auf eine gesunde Grundlage zu stellen. Noch im gleichen Jahre wurde er von seinen konservativen Gegnern erschlagen und mit ihm zusammen dreihundert Kampfgenossen von der Volkspartei. Das wurde der Anfang eines hundertjährigen Bürgerkrieges.
Zehn Jahre später nahm Gaius Gracchus das Sozialprogramm seines ermordeten Bruders wieder auf. Auch er wurde ermordet. Diesmal aber waren es dreitausend Männer der Volkspartei, die mit ihm erschlagen wurden. Nun hatten die Konservativen für einige Jahre die totale Macht in den Händen und kauften sie aus im Sinne einer haßerfüllten Ausrottungspolitik. «Der Konsul nutzte den Sieg des Senats aufs rücksichtsloseste aus gegen die Volkspartei», sagt der zeitgenössische Historiker Sallust und berichtet sodann: «Demgemäß nutzte die Senatspartei mit WoIlust ihren Sieg und beseitigte viele durch Hinrichtung oder Vertreibung und mehrte im ührigen weniger ihre Macht als die öffentliche Angst. Auf diese Weise sind noch immer die großen Staatsgebilde zugrunde gegangen, weil eine Partei die andere in jeder Form besiegen und an den Besiegten dann um so schonungsloser Vergeltung üben will.» Sallust sprach aus reicher Erfahrung.
Im Jahre 87 kam die Gegenpartei an die Macht mit dem Konsul Cinna und dem Feldmarschall Marius an der Spitze. Der konservative Senat besaß die Naivität, die neuen Machthaber um Schonung der Bürger zu bitten. Aber es war umsonst, natürlich umsonst. Der blutige Terror gegen alle, die zur Gegenpartei hielten oder gezählt wurden, wütete hemmungslos, bis der konservative Senatsmarschall, der sieggewohnte Sulla, die Legionen der Volkspartei in einem blutigen Feldzug vernichtete.
Anno 82 wurde Sulla vom Senat zum Diktator ernannt. Er kassierte sämtliche Sozialgesetze der letzten fünfzig Jahre und eröffnete gegen die Volkspartei einen Vernichtungskrieg, der alles Bisherige in den Schatten stellte. Tausende waren gefallen. Abermals Tausende setzte der Diktator nunmehr auf die sogenannten Proskriptionslisten. Er verhängte den Ausnahmezustand und stellte öffentliche Tafeln auf mit endlosen Namenreihen. Und jeder, der auf dieser schwarzen Liste stand, war vogelfrei und ohne Rechtsverfahren und Berufungsmöglichkeit dem Tode verfallen. Das war die neue, die Sullanische Form des Ausrottungskrieges. Nach dreijährigem Blutregiment legte Sulla die Diktatur nieder und zog sich aufs Land zurück. Aber die Sullanischen Proskriptionslisten blieben in der Erinnerung der Überlebenden haften wie ein dunkles Schreckensbild, und die Grabschrift des Diktators verkündet seinen zweifelhaften Ruhm mit den Worten: «Er hat seinen Freunden Gutes und seinen Feinden Böses getan wie keiner zuvor.»

Das Zeitalter der Feste

Im Jahre 65 vor Christus begann Julius Caesar seine amtliche Laufbahn. Er begann sie als der fürstliche Festgeber des römischen Volkes. Caesar stammte aus einem der ältesten römischen Adelsgeschlechter, das seinen Ursprung direkt von der Göttin Venus herleitete und Könige zu seinen Ahnherrn zählte. Er war eine königliche Natur, er dachte groß und lebte im Großen, und mit der Großartigkeit und Verschwendung eines Königs bereitete er dem Volke die Festspiele, deren Ausrichtung damals seine populärste Amtspflicht war. Das Jahr 65 wurde ein großes, ein königliches Jahr – wie die festliche Ouvertüre einer neuen und besseren Zeit nach siebzig blutigen Kampfjahren. Das römische Volk hat dieses festliche Jahr nie wieder vergessen, und die munificentia Caesaris galt seitdem als ein Programmwort, das ein Zeitalter der Feste verhieß.
Dieser königliche Mensch trat an die Spitze der Volkspartei. Was führte ihn dahin? Er verachtete die reaktionäre Engherzigkeit der Senatsklique und war überzeugt, daß sie ihre weltgeschichtliche Rolle ausgespielt hatte. Er liebte das souveräne Großkönigtum im Sinne Alexanders des Großen und war gewiß, daß die Probleme der inneren und äußeren Politik nur durch Errichtung einer Weltmonarchie neuen Stiles zu lösen waren. Vor allem aber, dieser königliche Mensch hatte eine Passion dafür, festliche Menschen um sich zu sehen. Julius Caesar hatte die königlichste Leidenschaft der Könige: Menschen glücklich zu machen. Darum verschwendete er sein Vermögen für die Ausrichtung der großen Festspiele. Darum machte er die Sache des Volkes zu seiner eigenen Sache. Darum wollte er die Macht. Wir wissen, es gibt noch andere Deutungen Julius Caesars. Aber wir wollen kein Wort über sie verlieren. Sie sind zu klein für diesen wahrhaft großen Menschen.

Die Generalamnestie

Platon hat einmal gesagt: «Das Gesetz ist gerecht, der König aber ist gütig.» Julius Caesar war eine königliche Natur in diesem tiefsten Sinne des Wortes: Er wollte die Macht, um Güte zu üben, um die Welt durch die Clementia zu heilen. Julius Caesar glaubte an eine Politik der Clementia.
Aber dieser Mann war kein romantischer Schwärmer, sondern ein Realpolitiker ganz großen Formats, ein Virtuose, ja ein Routinier der Realpolitik. Er hat es verstanden, die Besten seiner Partei mit seinem Glauben an die Clementia zu erfüllen. Er hat der Arbeit seiner Partei mit dem Ruf zur Clementia neue Wege gewiesen. Und er hat die Anziehungskraft seiner Partei mit dem Propagandawort Clementia gewaltig gestärkt. Ein Mann der Volkspartei und ein Mann der Clementia, das sollten von nun an Wechselbegriffe werden. Was will Caesar? Er will die Versöhnung, die Gnade! Was will die Volkspartei? Sie will die Generalamnestie! Das waren Töne, die man in Rom noch nicht gehört hatte. Das war die neue Zeit.
Julius Caesar machte Ernst mit dem neuen Prinzip. Man kann aus der innenpolitischen Geschichte der sechziger und fünfziger Jahre eine ganze Reihe von Einzelfällen aufzählen, in denen der Führer der Volkspartei sich mit beispielhafter Großzügigkeit als der Mann der Clementia betätigt hat. Wir greifen nur einen Fall heraus. Anno 60 schloß Caesar mit Pompeius und Crassus das erste Triumvirat. Anno 59 war Caesar erstmalig Konsul. Im gleichen Jahre prägt der ultrakonservative Markus Junius Brutus seine ersten Freiheitsmünzen, die nichts anderes sind als herausfordernde Protestkundgebungen der Senatsreaktion gegen den monarchistischen Kurs der Volkspartei*). Caesar aber krümmt dem jungen Brutus kein Haar. Im gleichen Jahre wird Brutus einer Verschwörung gegen Pompeius verdächtigt. Caesar aber rettet ihn.
Im Jahre 58 übernimmt Caesar das Oberkommando in Gallien, und nun hat er in dem achtjährigen Gallischen Krieg immer neue Gelegenheit, das Prinzip der Clementia auf militärischem und außenpolitischem Gebiet zu realisieren. Man weiß, wie leidenschaftlich die Legionen an diesem römischen Wallenstein und Napoleon hingen. Aber wir wissen auch, wie meisterhaft er den militärisch geschlagenen Feind durch seine Clementia politisch zu überwinden und zu gewinnen verstand. Er selbst jedenfalls spricht in seinen Kriegserinnerungen oft und gern von dieser seiner Versöhnungspolitik in Feindesland. Immer wieder erzählt er davon, wie die Gesandten der unterworfenen Stämme an seine Clementia appellieren: «Verfahre mit uns nach der dir eigenen Milde und Großherzigkeit.» «Wenn du uns mit der dir eigenen Milde und Großmut behandeln willst, von der wir aus den Berichten anderer Völkerschaften gehört haben, so laß uns die Waffen.» Man sieht: die Clementia Caesaris ist damals schon ein internationaler Begriff, eine feste Formel in der diplomatischen Sprache. Caesar selber antwortet auf solche Bittgesuche mit den Worten: «Ich will die Stadt schonen, weniger um ihrer Verdienste als um meiner Gewohnheit willen.» Und ein andermal berichtet er davon, wie er im Namen des römischen Volkes den Besiegten Verzeihung gewährt habe, statt ihr Land zu annektieren.
Caesars «Bellum Gallicum» ist nicht das Memoirenwerk eines alten Mannes, der für den Rest seines Lebens von stolzen Kriegserinnerungen leben möchte, es ist ein hochpolitisches Buch, mitten im Tumult der Ereignisse geschrieben und herausgegeben in dem Augenblick, als Caesar zu dem entscheidenden Schlag seines politischen Lebens ausholt – am Vorabend des Bürgerkrieges. Das römische Volk sollte wissen, in welchem Geiste Julius Caesar den Kampf um die Macht zu führen gedachte – im Geiste der Clementia. Daß Caesar aber bei alledem kein Schwärmer oder Schwächling war, das konnte und sollte die Weltöffentlichkeit aus manchem Gegenbeispiel schonungsloser Kriegsführung lernen. Man braucht nur an die Behandlung der Usipeter und Tenkterer oder den Fall des Vercingetorix zu erinnern. So gab es denn Leute genug in Rom, denen der Führer der Volkspartei und Bezwinger Galliens immer noch eine höchst undurchsichtige oder unheimliche Gestalt war. Wir nennen nur den Historiker Sallust, der noch anno 50 einen Brief an Caesar richtete, in dem er ihn beschwor, nicht den blutigen Spuren Sullas zu folgen.

Die neue Siegestaktik

In den letzten Dezembertagen desselben Jahres übergab der römische Konsul dem konservativen Feldmarschall Pompeius das Schwert zur Verteidigung Roms gegen Caesar. Und nun wartete die ganze Welt mit angehaltenem Atem auf die weitere Entwicklung der Dinge.
Im Januar 49 «fiel der Würfel». Caesar marschierte in Italien ein. Eine Stadt nach der anderen kapitulierte, eine Legion nach der anderen ging zu ihm über. Fluchtartig verließ Pompeius die Reichshauptstadt. Im Februar stand Caesar bereits vor der Stadt Corfinium, östlich von Rom. Er erzwang die Kapitulation. Der pompeianischen Besatzung aber schenkte er die Freiheit. Die Nachricht von dieser Großtat seiner Clementia ging wie ein Lauffeuer durch die römische Welt. Die Caesarianer machten sie zu einem Lieblingsthema ihrer Propaganda und rühmten allenthalben in Reden und Briefen die Humanität und Versöhnlichkeit des Siegers und seinen Widerwillen gegen jegliche Grausamkeit. Aber auch die Feinde wurden nackdenklich. Corfinium wurde der Anfang eines moralischen Eroberungszuges, den Caesar nicht minder erfolgreich führte als den militärischen Feldzug.
Inzwischen marschierte Caesar immer weiter südwärts und jagte Pompeius vor sich her. Anfang März 49 stand er in Apulien, und von dort schrieb er einen Offenen Brief an seine Parteifreunde, in dem es heißt: «Ich freue mich von Herzen, daß ihr mir geschrieben habt, wie sehr ihr mein Vorgehen in Corfinium billigt. Gern will ich von eurem Rat Gebrauch machen und um so lieber das tun, was ich schon aus eigenem Antrieb beschlossen hatte, um mich so milde wie möglich zu zeigen und alle Anstrengungen zu machen für eine Aussöhnung mit Pompeius. Wir wollen versuchen, auf diese Weise, wenn es möglich ist, jedermanns Vertrauen wiederzugewinnen und einen dauerhaften Frieden zu genießen. Denn die Männer, die vor uns waren, haben durch ihre Grausamkeit dem Haß nicht entrinnen und ihren Sieg nur kurz aufrechterhalten können außer dem einen, dessen Vorbild ich nicht zu folgen gesonnen bin, Lucius Sulla. Haec nova sit ratio vincendi, ut misericordia et liberalitate nos muniamus – das muß die neue Siegestaktik und Sicherheitspolitik sein, daß wir Vergebung üben und eine freie und festliche Welt schaffen. Wie man das in die Tat umsetzen könne, darüber geht mir mancherlei durch den Sinn, und viele Wege lassen sich noch finden.»
Die Versöhnungstat von Corfinium und dieses programmatische Wort von der neuen Siegestaktik – beides verriet denselben Geist, denselben Menschen und verfehlte seine Wirkung nicht. Selbst der kleingläubige Cicero rang sich zu ein paar Worten der Anerkennung durch. Caesar ging sofort darauf ein und schrieb an Cicero: «Du hast mich richtig gedeutet, denn du kennst meine Natur, nichts ist mir ferner als Grausamkeit. Mir ist nichts lieber als dies, daß ich meinem Wesen treu bleibe und die Pompeianer dem ihren.» Aber Cicero dachte zu klein, um das Große und Neue, das sich hier ankündigte, wirklich zu begreifen. Er gefiel sich zu gut in seiner neunmalklugen Skepsis und führte noch im Mai 49 mit seinen Freunden weisheitsvolle Gespräche über die sullanische Grausamkeit des Pompeius und die insidiosa clementia, die hinterhältige Clementia Caesars, Gespräche, die von Verständnislosigkeit, Mißtrauen und Angst nur so strotzten. Als es auf Biegen oder Brechen ging, entschied sich Cicero für Pompeius.
Unterdessen rüsteten Caesar und Pompeius zum Endkampf, moralisch und militärisch. Ein antiker Historiker berichtet darüber mit folgenden Worten: «Eine bewunderungswürdige Mäßigung und Milde (moderationem clementiamque) bewies Caesar in der Führung des Bürgerkrieges. Pompeius erklärte, er werde einen jeden als Feind behandeln, der der Sache der Republik untreu werde. Caesar aber ließ bekanntmachen, er werde die Vermittlungspolitiker und Neutralen zu seinen Freunden zählen. Sämtlichen Offizieren, die er einst auf Empfehlung des Pompeius eingestellt hatte, stellte er frei, ins Lager der Pompeianer überzugehen. Als man in Spanien (bei Ilerda) über die Kapitulationsbedingungen verhandelte und infolgedessen ein lebhafter Verkehr zwischen beiden Lagern entstand, wurden die feindlichen Heerführer Afranius und Petreius plötzlich rückfällig und ließen alle im pompeianischen Lager auwesenden Soldaten Caesars aufgreifen und niedermachen. Caesar aber konnte es nicht über sich gewinnen, diese Perfidie mit Gleichem zu vergelten» (Sueton).

Die Aktenvernichtung

Im Herbst des Jahres 48 errang Caesar den vernichtenden Sieg über Pompeius bei Pharsalus. Nach der Schlacht werfen sich ungezählte gefangene Pompelaner dem Sieger zu Füßen und betteln weinend um ihr Leben. Caesar antwortet ihnen mit einem kurzen Wort über seine Milde (de lenitate sua) und begnadigt sie ohne Ausnahme. So berichtet Caesar selbst. Ein römischer Historiker aus den Tagen Jesu Christi nennt diesen Gnadenakt ein munus misericordiae, einen Dienst der Barmherzigkeit. Und der nüchterne Plinius schreibt: «Der eigenste und tiefste Wesenszug Caesars war seine königliche Clementia, mit der er alle überwand und zur Umkehr brachte. So bot er das Beispiel einer großen Seele, wie es kein zweites mehr gibt… Am hellsten aber zeigte sich bei Pharsalus die echte und unvergleichliche Hoheit seines allüberwindenden Herzens. Denn als die Kassetten mit dem pompeianischen Aktenmaterial in seine Hand fielen, ließ er sie optima fide verbrennen, ohne auch nur einen Blick hineinzutun.»
Im gleichen Geiste erklärt Caesar anno 47 im «Alexandrinischen Krieg»: «Nichts tu ich lieber als Bittflehenden Amnestie gewähren.» Im gleichen Stile führt er anno 46 den moralischen und militärischen Feldzug gegen Cato und die letzten Konservativen in Afrika. Wir hören, wie der geschlagene Feldherr seine besorgten Soldaten ermutigt mit den Worten: «Ich habe große Zuversicht auf die Clementia Caesaris.» Seine Zuversicht wird nicht zuschanden. «Die Clementia Caesaris gegen die Besiegten war auch dort dieselbe wie in den früheren Fällen», so sagt ein antiker Berichterstatter. Und Plinius berichtet, daß Caesar dort genau wie in Pharsalus alle feindlichen Aktenstücke unbesehen vernichten ließ. Im gleichen Sinne appellieren die besiegten Pompeianer in Spanien an die Clementia Caesaris, von der sie alles Heil erhoffen und wirklich auch erfahren. Gleichzeitig aber gewann er das Herz des kleinmütigen Cicero, dem er die unbehelligte Rückkehr nach Rom und freieste Betätigung in der Reichshauptstadt gestattete.

Clementia Caesaris

Im März 45 hatte Caesar die letzten Pompeianer in Spanien geschlagen. Nun war er der Herr der römischen Welt. Nun beginnen die zwölf letzten und königlichsten Monate dieses königlichen Lebens, genau zwanzig Jahre, nachdem Caesar einst mit den unvergeßlichen Festspielen des Jahres 65 und dem Versöhnungsprogramm der Volkspartei seine politische Laufhahn eröffnet hatte.
Die erste und grundlegende Tat des Siegers war die Durchführung eines totalen Amnestieprogramms, das noch weit hinausging über die unwahrscheinlichsten Zukunftsversprechungen der Kampfzeit. Es ist gänzlich unmöglich, die zeitgenössischen Zeugnisse über dieses einzigartige Amnestiewerk hier im einzelnen aufzuführen. Wir zitieren nur drei summarische Berichte aus antiken Geschichtswerken. Velleius Paterculus sage: «Caesar kehrte als Sieger über alle Gegner in die Reichshauptstadt zurück und – es mag uns Menschen kaum glaubhaft erscheinen – proklamierte die Generalamnestie für alle, die die Waffen gegen ihn erhoben hatten. Mit solcher Clementia machte der große Mann Gebrauch von allen seinen Siegen.» Sueton berichtet: «Endlich im letzten Jahr seines Lebens gestattete er auch denjenigen, die er noch nicht amnestiert hatte, ohne Ausnahme, nach Italien zurückzukehren und dort in die höchsten Regierungsämter und Offiziersstellen einzurücken. Aber auch die vom Volke niedergerissenen Statuen des Lucius Sulla und Gnaeus Pompeius ließ er wieder neu aufstellen. Auch feindselige Pläne oder Äußerungen, die man späterhin gegen seine Person richtete, wollte er lieber verhindern als bestrafen. Daher verfolgte er auch entdeckte Verschwörungen und nächtliche Zusammenkünfte lediglich in der Weise, daß er durch Edikte bekanntgab, er wisse Bescheid. Wenn Leute gehässig über ihn sprachen, so begnügte er sich damit, im Parlament zu warnen, sie möchten das lassen. Auch die Kränkung seines Namens durch die Lügenschrift des Aulus Caecina und die Lästerverse des Pitholaos ertrug er wie ein Gentleman (civili animo).» Und Dio Cassius schreibt: «Daß er aber denen, die von seinen Parteigegnern noch ührig waren, jederlei Strafe erließ und sie unter den gleichen Bedingungen begnadigte, ja zu Regierungsämtern beförderte, den Witwen der Gefallenen aber ihr eingebrachtes Vermögen zurückgab und den Kindern einen Teil des väterlichen Erbes schenkte – damit setzte er die schändliche Mordpraxis des Sulla auf eine großartige Weise ins Unrecht, so daß er das größte Lob nicht nur der Tapferkeit, sondern auch der Milde erntete, so schwer es auch gemeinhin ist, daß der gleiche Mensch im Krieg wie im Frieden gleichermaßen sich auszeichne.»
Wir nennen wieder nur ein Exempel für Caesars liberale Politik, wieder das Beispiel des Markus Junius Brutus: Im Jahre 46 hatte Kato, der verbissene Caesarhasser, am Ende des afrikanischen Krieges Selbstmord verübt, um den Untergang der konservativen Sache nicht zu überleben. Anno 45 heiratete Markus Junius Brutus (sein Neffe und Pflegesohn) Katos Tochter Porcia und verfaßte gleichzeitig eine Huldigungsschrift zum Gedächtnis des großen Freiheitskämpfers. Der große Caesar ließ ihn unbekümmert gewähren und ernannte ihn für das Jahr 44 zum Praetor urbanus, das heißt zum Praesidenten des Römischen Senats und Obersten Gerichtshofes und stellvertretenden Polizeichef.
Cicero war überwältigt. Das war mehr, als er begreifen konnte. Um so mehr fühlte er sich seiner Art nach nun berufen, die staatsphilosophische Begleitmusik zu Caesars weltgeschichtlichen Taten zu liefern. «Was wir noch von jedem Sieger im Bürgerkriege erfahren haben, das erleben wir bei dir nicht. Du bist der einzige, Gaius Caesar, bei dessen Sieg niemand sein Leben verloren hat, es sei denn in Waffen.» So ruft er dem Diktator zu. Dithyrambisch rühmt er in seinen Reden den clementissimus dux, den allergnädigsten Führer, seine «einmalige und unerhörte», seine «wunderhafte und preiswürdige Clementia». Weisheitsvoll spricht er in Freundesbriefen von Caesars «einzigartiger Humanität» und seiner «unglaublichen Liberalität», von seiner «milden und gütigen Natur». Und wieder wendet er sich zu Caesar selbst, diesmal mit erhobenem Finger: «Werde nicht müde im Rettungswerk an den guten Standesherren, die ja nicht aus Eigensucht oder Schlechtigkeit zu Fall gekommen sind, sondern in Erfüllung einer vermeintlichen Pflicht, Toren vielleicht, aber gewiß keine Verbrecher.» Man kann sich denken, wie dankbar Caesar für diese staatspolitischen Privatstunden war. «Es ist erstaunlich, was Caesar sich alles sagen ließ», schreibt ein moderner Historiker (L. Wickert). Der Diktator hat sich seiner Natur nach wohl mit einem kleinen ironischen Lächeln begnügt. Aber seine kongeniale Gefährtin, die große Kleopatra, hat dem wortreichen Cicero auf ihre Art beigebracht, wie man über ihn dachte. Als der weise Politikus in ihrem römischen Salon mit vielen Bücklingen seine Aufwartung machte, trat sie spontan auf ihn zu und begrüßte ihn mit den vielsagenden Worten: «Wie bin ich glücklich, den größten Wortvirtuosen Roms persönlich kennenzulernen.» Cicero blickte im Augenblick ein klein wenig unsicher, doch er erholte sich bald und setzte seine hymnologische Tätigkeit unverdrossen fort.
Auch der Senat wurde mitgerissen und faßte einen einzigartigen Entschluß zur Würdigung der einzigartigen geschichtlichen Stunde. Er ernannte Caesar zum Vater des Vaterlandes und dekretierte die Errichtung eines eigenen Tempels für die Clementia Caesaris. Dort sollte man Caesar und seine göttliche Clementia Hand in Hand sehen und anbeten können, und im Giebelfeld des Tempels sollte ein Globus verkündigen, daß die Clementia Caesaris die ganze Menschenwelt umspannte.
Caesar selbst aber feierte Feste wie nie, und das ganze Volk feierte mit. Noch nach siebzig und hundert Jahren erzählte man sich von dem phantastischen Oktoberfest des Jahres 45. «Er erfüllte die Stadt mit den magnifizentesten Gladiatorenspielen, mit Seegefechten, Kavalkaden, Elephantenkämpfen und anderen Schaustellungen und zelebrierte ein tagelanges Massendiner.»
Und nicht nur die Reichshauptstadt sollte von diesen Dingen wissen, die ganze römische Welt sollte sich feiernd vereinigen um die festliche Gestalt des Mannes, der die Menschheit von Not und Haß und Angst befreite. In diesem Sinne brachte man Münzen heraus, die auf der Vorderseite bald den Kopf Caesars zeigten mit der Unterschrift «Vater des Vaterlandes», bald den Tempel der Barmherzigkeit mit der Beischrift CLEMENTIA CAESARIS, auf der Rückseite aber beide Male eine Reiterszene vom Oktoberfest. Freudenboten wollten diese Münzen sein, Botschafter des Mannes, der die königliche Leidenschaft hatte, fröhliche Menschen um sich zu haben und eine frohbewegte Welt.
Beethoven hat seine Eroica bekanntlich dem Konsul Napoleon Bonaparte zugedacht – und das Widmungsblatt dann später zerrissen und zerstampft. Er hätte seine Neunte Symphonie dem Andenken Caesars widmen können, und hier war nichts zurückzunehmen. Denn wahrhaftig, das Leben Julius Caesars schreitet und stürmt und tanzt dahin wie Beethovens Neunte. Die letzten zwölf Monate dieses Lebens aber sind wie ein einziger Gesang an die Freude:

    Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium,
    Wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum.

Und wiederum:

    Gram und Armut soll sich melden, mit den Frohen sich erfreun.
    Groll und Rache sei vergessen, unserm Todfeind sei verziehn.
    Unser Schuldbuch sei vernichtet, ausgesöhnt die ganze Welt!
    Freude sprudelt in Pokalen, in der Traube goldnem Blut …

Und noch einmal:

    Freude, schöner Götterfunken, Tochter aus Elysium!

Das ist Geist vom Geiste Julius Caesars, Geist der Versöhnung, Geist des freien und festlichen Lebens.

Das Schicksal der Clementia

Am 15. März 44 wurde Julius Caesar durch einen Haufen reaktionärer Senatoren ermordet. Der treibende Geist der Verschwörung war Markus Junius Brutus, der römische Judas. Als Caesar ihn mit blankem Dolch herandrängen sah, sagte er nur drei griechische Worte «Kai sy, teknon? – Auch du, Kind?» Dann verhüllte er sein Gesicht und brach unter dreiundzwanzig Stichen zusammen. So erzählt eine alte Überlieferung bei Sueton und Dio Cassius. Man kann die weltgeschichtliche Tragik dieses Augenblicks nicht schlichter und menschlicher zum Ausdruck bringen. Caesar hat sein Leben lang an die politische Evidenz seiner Clementia, an die überzeugende Kraft und überwindende Macht seiner Vergebungspolitik geglaubt. «Ich will lieber getötet als gefürchtet werden und baue auf die Clementia, die ich übe», so pflegte er zu sagen, so oft man ihn zu einer Politik der bewaffneten Sicherheit drängen wollte. Markus Brutus hat das Vertrauen seines großen Herzens getäuscht und den Glauben seines Lebens verhöhnt. Das ist der Schlangenbiß, an dem Julius Caesar zugrunde gegangen ist.
Cicero drückte das so aus: «Die Clementia ist dem Diktator zum Verhängnis geworden, seine Großherzigkeit wurde sein Untergang.» Die antiken Historiker stimmen ihm zu – und der christliche Geschichtsschreiber Orosius sagt wörtlich: «Er ging unter bei dem Versuch, die politische Welt entgegen dem Beispiel seiner Vorgänger im Geiste der Clementia neu aufzubauen.»
Das römische Volk verherrlichte den großen Toten durch eine einzigartige Passionsliturgie, die an die altorientalischen Klageriten um den Tod der großen Segensgötter anklingt und in manchen Motiven eine erstaunliche Verwandtschaftc zeigt mit der heute noch gültigen Karfreitagsliturgie der Römischen Messe. «Die ich gerettet habe, die haben mich umgebracht», so sang man im Namen des Erschlagenen. Und Antonius erklärte vor dem Venustempel, in dem der Sohn der Göttin aufgebahrt lag: «Wahrhaftig, nicht von dieser Welt kann der Mann stammen, der nur das eine Werk verstand, zu retten, wo irgend jemand zu retten war.»
Die Männer des 15. März aber hatten sich getäuscht, wenn sie meinten, das Werk Julius Caesars vernichten und den Willen der Geschichte verhöhnen zu können. Sie haben den Dolchstoß gegen die Clementia Caesaris teuer bezahlen müssen. Der tote Caesar machte seinen Feinden schlimmer zu schaffen als der lebende, so schreibt ein zeitgenössischer Historiker. Noch einmal ging das blutige Gespenst der Proskriptionen durchs Land, dreihundert Senatoren und zweitausend Ritter mußten fallen, ehe der junge Augustus zu der Versöhnungspolitik seines Vaters zurückkehrte.

Wir haben nur Tatsachen berichtet, nur die wichtigsten Tatsachen. Vieles mußten wir beiseite lassen, und auf die leidenschaftliche Kontroverse, die um die Beurteilung Caesars und seiner Clementia noch immer hin und her geht, konnten wir hier nicht eingehen. Uns ging es darum, hier Caesar selbst und seine Zeitgenossen zu Worte kommen zu lassen. Denn wir meinen, es sei aus der Geschichte der Clementia Caesaris etwas zu lernen, drei Dinge seien hier zu lernen:
Die Clementia Caesaris steht in der Geschichte des stürmischen Adventsjahrhunderts vor der Zeitwende wie ein metsphysisches Postulat. Der Christenmensch weiß, wie Gott selbst und Gott allein dieses Postulat erfüllt hat. Das Versöhnungswerk Caesars ist gescheitert. Das Versöhnungswerk Christi aber ist vollbracht.
Dennoch, das Amnestieprogramm des großen Realpolitikers geht durch die Geschichte der Jahrhunderte wie ein weltpolitisches Vermächtnis. Und die Menschheit hat es noch jedesmal bitterlich büßen müssen, wenn sie die Clementia Caesaris verachtet hat.
Eine Kirche, die alle diese Tatsachen ernst nimmt, darf und muß die Völker der Welt, ihre Politiker und ihre Juristen mit neuem Mut und Verantwortungsbewußtsein an das Caesarwort erinnern, das vor zweitausend Jahren gesprochen wurde: «Das muß die neue Siegestaktik und Sicherheitspolitik sein, daß wir Vergebung üben und eine freie und festliche Welt schaffen.»
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    *) Die wichtigste unter ihnen ist eine Silbermünze mit den Porträtköpfen des ersten Konsuls Brutus und des Tyrannenmörders Servilius Ahala, die nicht verwechselt werden darf mit der Goldmünze des Wiener Münzkabinetts, welche nach dem gleichen Modell gearbeitet, aber seit 1863 als Fälschung erkannt ist.