Transatlantik – Claus-Peter Lieckfeld


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Transatlantik, Nr. 1/Mai 2000, S. 15
(Bücherzeitung des Hauses Bertelsmann,
„mit freundlicher Genehmigung des SPIEGEL und Hans Magnus Enzensbergers“ [aus dem Editorial])

Eine Jesus-Entlarvung als Reiselektüre?

CLAUS-PETER LIECKFELD

Es gibt immer gute, belesene Freunde, die wissen, dass man nicht unbeschwert verreisen sollte, und die einem noch schnell etwas Gehaltvolles zwischen die Kofferdeckel schieben. Sie kennen das doch auch, oder…?
»Also wenn du nach Kreta fährst, lies unbedingt Kazantzakis, Griechische Passion«… »Indien? Da weiß ich was! Nein, vergiss Rushdie! Vikram Seth! Eine gute Partie. Also wenn du die 1400 Seiten durch hast, hast du Indien verstanden.«
Aber ich will nicht nach Kreta oder Indien, ich will nach Jerusalem, an die Stätten des Neuen Testaments. Wenn nicht im rundesten seit tausend Jahren, wann denn dann? Vielleicht noch vorbereitend die vier Evangelien Markus, Matthäus, Lukas und Johannes – anblättern. Oder…? »Ich weiß da was total Verrücktes«, sagt besagter Freund und legt mir für 20 DM (Goldmann-Sonderleistung) ein 512-Seiten-Danaer-Geschenk auf den Tisch: »WarJesus Caesar?«
»Wenn du das durch hast«, sagt mein Freund, »musst du nicht mehr hin. Jesus ist eine Fälschung. Hier lies!«
Nun wollte ich eigentlich nicht lesen, um mir eine Reise zu ersparen, sondern im Gegenteil lesend deren Ertrag erhöhen. Gelesen habe ich dann aber doch; nicht ohne mir geistlichen Beistand zu holen: Ulrich Fischer, einer, mit dem ich in den Sechzigern die Schulbank gedrückt habe, ist heute Landesbischof der Evangelischen Landeskirche Baden. Und der sollte es doch eigentlich von Berufs wegen wissen, meine ich. Also: Gab es einen historischen Jesus? Und was ist von einem Autoren zu halten, der behauptet, Jesus sei nicht gekreuzigt worden, sondern erdolcht worden? Ich war auf einen lutherischen Bannstrahl gefasst, aber Ullo (auch Bischöfe behalten ihre Schulklassen-Namen) zupfte amüsiert an den Einmerkern, die er sich extra für mich in Carottas Dickwerk gelegt hatte und fand dann das Ketzerwerk »durchaus bemerkenswert«.
Wie das? »Die Frage, die sich Carotta in der Einleitung stellt: Vielleicht ist ins Christentum etwas vom Caesaren-Kult eingegangen? kann man aus theologischer Sicht nur mit einem lauten und kräftigen: „Aber sicher doch!“ beantworten.« So Bischof Dr. Ulrich Fischer. Das klassische Beispiel dafür kennen die meisten: Aus dem römischen »Sol invictus«-Fest, dem Fest der Wintersonnenwende, machten die Christen das Geburtstagsfest des Heiland.
Während aber Carotta zu beweisen trachtet – teils mit verblüffender Indiziendichte –, dass aus dem Fundus der Caesaren-Verehrung fast 1:1 eine monotheistische Neu-Religlon gebastelt wurde, das Christentum nämlich, hält die moderne christliche Theologie daran fest, dass in die mündlichen Uberlieferungen von Jesu Leben und Wirken zeitgenössische Bilder, Denkformen und Traditionen (notabene auch viele römische!) eingegangen sind.
Carotta dagegen sieht hinter gleichen Bildern, Begriffen und verwandten Wortwurzeln den Januskopf Caesar/Jesus durchschimmern. Der Lorbeer-, bzw. Eichenlaubkranz Caesars wird zur Dornenkrone Jesu. Und: »Was trennt Caesars „Gallia“ von Jesu „Galilaia“? Was „Kaisara“ von „Nazara“?«
Da wird denn auch schnell aus dem Pontifex Lepidus (aus dem Umfeld Caesars) der neutestamentarische Pontius Pilatus – obwohl es für diese Verwandlung keinerlei Notwendigkeit gibt. Jener berüchtigte Hände-in-Unschuld-Wäscher namens Pontius Pilatus ist für die Zeit Jesu mehr als nur hinreichend historisch belegt.
Auch der große linguistische Aufwand, mit dem Carotta eine Identität der Ehrentitel Caesars und Jesu beweisen will, vermag nicht so recht zu überzeugen: Jesu Ehrentitel sind samt und sonders in der jüdischen Tradition nachweisbar. So kommt »Menschensohn« schon im Alten Testament bei Daniel und in der Apokalypse vor; es gibt also wenig Grund, diesen Lieblingstitel Jesu als Leihgabe aus der Caesarischen Asservatenkammer zu quallfizieren.
Warum Jesus nicht gekreuzigt worden sein soll – Carotta gibt zu bedenken, dass »stauroô« nicht »kreuzigen« sondern »Pfähle aufstellen« bedeutet –, warum es bei der Kern-Szene christlicher Lehre allenfalls darum gegangen sein soll, dass Jesu Kleidungsstücke auf einen rituellen Scheiterhaufen geworfen wurden, bleibt ebenfalls etwas uneinsichtig. Moderne Bibelforscher tun sich da wesentlich leichter:
Das berühmte »… und sie warfen das Los« ist nichts anderes als der Rückgriff auf Psalm 22; der Evangelist wollte, dass sich die alte biblische Prophezeiung erfülle.

Es sind schon einige Uberschläge am Hochreck der Interpretationsakrobatik nötig, um das Kreuz umzulegen: Denn schließlich war die Schauhinrichtung am Marterholz im Imperium Romanum die bevorzugte Todesart für vermeintliche oder tatsächliche Feinde des Reiches. Warum also sollte ausgerechnet das historisch Wahrscheinlichste (Kreuzigung eines Anführers) und das für einen Gott Unrühmlichste (Tod durch seine Feinde) erfunden worden sein?
Carottas These macht allerdings – für ihn! – Sinn: Nur mit einem ungekreuzigten Nazarener geht seine »Caesar = Jesus-Gleichung« auf. Jesus soll im Garten Gethsemane schwer oder tödlich von Messern verletzt worden sein, denn: »Jesu Gefangennahme ist in Wahrheit seine und somit Caesars Ermordung.«
Das mag man nun für absurd unwahrscheinlich halten. Es ist in jedem Fall spannend. So wie auch bei Carotta aus dem Caesarenmörder Brutus der messerhantierende Ohr-ab-Petrus wird. Oder aus der untreuen Ehefrau des Caesar jener Gichtbrüchige, den Jesus freispricht (=heilt). Oder wie sich römische und christliche Auferstehungsvorstellungen ikonographisch vermischen. Wie aus dem neptunischen Dreizack das christliche Kreuz-Symbol wird. Aus der kapitolischen Trias – Jupiter/Juno/Minerva – die Heilige Dreifaltigkeit. Und so weiter.
Werde ich also im Heiligen Land nur Steine finden, an denen fromme Mythen hängen? Oder betrete ich jenen Boden, wo vor rund zweitausend Jahren alles begann? Vielleicht werde ich einfach mein Ohr an die berühmten Steine legen, am Felsendom oder an das Pflaster der Via dolorosa, und hören, was sie sagen: »Heil Caesar!« Oder: »Fürchtet euch nicht!«

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NOTA BENE: Diese ausgewogene Rezension – einen Hieb auf die Daube, einen auf den Faßreif – hat den Vorzug, die zum Teil wörtliche Meinung des „geistlichen Beistands“ mitzuteilen, Landesbischof und Doktor. Wir haben hier also mit einer nicht nur autoritativen, sondern auch autorisierten Kritik zu tun: mit Imprimatur sozusagen. Sie ist daher nicht zufällig im Tenor deckungsgleich mit jener, die wir bereits sahen aus der Feder der Katholischen Beauftragte für Privaten Hörfunk (s.u.)
Aber sie spricht viel mehr zentrale Punkte an: Daher lohnt es, sich mit ihr ausführlicher auseinanderzusetzen.
Interessant ist hier weniger, daß „Bischof Dr. Ulrich Fischer“ die These „durchaus bemerkenswert“ findet (das mag nur jene überraschen, die dachten, die – überwältigende und von niemandem bestrittenen – römische Prägung des Christentums sei eine Erfindung meiner Wenigkeit), sondern, daß er genau weiß, was zu verteidigen gilt: Pontius Pilatus, den „seidenen Faden, der Jesus mit der Geschichte verbindet“ (Couchoud), die einzige historische Gestalt im Evangelium. Pilatus ist in der Tat, „hinreichend historisch belegt“, zwar nicht als der „Hände-in-Unschuld-Wäscher“, welcher er nur im Evangelium ist, aber immerhin. Was der Bischof und mit ihm wohl auch der Rezensent verkennt, ist, daß in der Hypothese einer anzunehmenden Delokalisierung, es notwendig ist, daß eine historische Gestalt da sei, die als Ankerpunkt dient, damit der Evangelist die Geschichte gerade dort und in jene Zeit transponieren kann. Sonst wäre sie ja für seine neuen Zuhörer, und wohl auch für ihn selbst, im Ergebnis nicht glaubhaft.
Interessant ist weiter, daß Weihnachten – als christliche Form des Sol-invictus-Festes – leichter preisgegeben wird als Ostern, obwohl vom Ritual her letzteres enger seinen Ursprung aus der Caesar-Beisetzung bewahrt hat (s. Ethelbert Stauffer, Jerusalem und Rom, Bern 1957, S. 20 ff., sowie Osternacht und Osterfeuer auf dieser WebSite, Subseite /Texte).
Daß „Jesu Ehrentitel samt und sonders in der jüdischen Tradition nachweisbar sind“ ist falsch. Die ganze Militärtitulatur Christi, anzufangen bei „Imperator“, ist spezifisch und römisch (cf. H. Cancik, „Christus Imperator“ in: Der Name Gottes, H. v. Stietencron ed., Düsseldorf 1975, S. 120). Die Verantwortung für die Behauptung, daß das „Buch Daniel“ sowie die „Apokalypse“ älter seien als Caesar, überlasse ich dem Rezensenten und seinem geistlichen Beistand. Daß „Menschensohn“ bereits bei Daniel vorkomme, bedeutet nicht, daß er nicht die markinische Übersetzung von GAIVS darstelle, als GAI VS gelesen, Sohn des Gaius, also des Menschen allgemein (mit ähnlicher Typisierung wie Adam und Adama; VS, gr. YS, als Nomen Sacrum für YIOS).
„… und sie warfen das Los“ ist selbstverständlich Rückgriff auf Psalm 22, womit der Evangelist in der Tat wollte, dass „sich die alte biblische Prophezeiung erfülle“. Nun diese, wohl ex eventu eingeschobenen Zitate, sind nicht einfach so dahin hineingestreut worden: Sie sind vielmehr und anerkanntermaßen Midraschim, d.h. Deutungsversuche. Der Einsatz des Midrasch ist sehr ritualisiert: Findet man in einem neuen Text eine unerhörte Stelle, vor allem eine, die Anstoß erregt, so muß in den akzeptierten alttradierten Büchern mindestens eine Stelle gefunden werden, die Ähnliches besagt, möglichst wörtlich – wobei im Evangelium die Zitate aus dem Alten Testament als Prophezeiung herhalten sollen, um zu beweisen, daß Jesus der erwartete Messias ist. Das heißt aber, daß die abzusegnende Stelle sich bereits im Text befinden soll, damit das passende Zitat gesucht werden kann, folglich im Ur-Markus muß bereits etwas von „das Los werfen“ gestanden haben, damit als deren Absegnung Psalm 22 sinnvoll und glaubwürdig bemüht werden konnte. Daß die Einsetzung dieses Zitats dann den ursprünglichen Sinn verschob, liegt auch in der Natur des Midrasch. Und hier wurde wohl verdeckt, daß die „Lose“, wovon die Rede war, jene den Legionären Zugefallenen waren (die „Landlose“) sowie andere, begehrteren (z.B. die unter den Caesar-Mördern „gelosten“ Provinzen).
„Das für einen Gott Unrühmlischste (Tod durch seine Feinde)“ brauchte nicht „erfunden zu werden“: Es ist Caesars Schicksal gewesen: Erstaunlich, wie schnell das verdrängt wird – warum denn wohl? Und „das historisch Wahrscheinlichste (Kreuzigung eines Anführers)“ war, wie der Rezensent selbst ausführt,„ im Imperium Romanum die bevorzugte Todesart für vermeintliche oder tatsächliche Feinde des Reiches“: Also nichts auffälliges, nichts besonderes. Auffällig und besonders war, daß Caesars Simulacrum, dessen Abbild aus Wachs, mit all den Stichwunden auf dem zermarterten Körper, und zuerst von seiner blutbespritzten Toga zugedeckt, bei seiner Beisetzung am Tropäum hing, dort wo die Spolien seiner Feinde, an erster Stelle der Brustpanzer des Vercingetorix, hingehört hätten. Das war das Besondere und Empörende, was das Volk zur Empörung bewegte – und heute noch bewegt – und nicht etwa die unwahrscheinliche verschwommene Erinnerung an irgendeinen der unzähligen namenlosen Hingerichteten: Wie untragfähig die herkömmlichen Phantasien sind, zeigt „Das Leben des Brian“, der Monty Python vortreffliche Satire auf die Leben-Jesu-Forschung.
Daß Jesus bereits gestorben gewesen sei, als er am Kreuz hing, darauf habe ich nicht als erster hingewiesen. Es ist schon früher vielen aufgefallen, daß ein politischer Gefangener, der bei seinem Prozeß nicht spricht, ja beharrlich schweigt, nicht glaubwürdig ist. Daher gibt es darüber eine sehr ausführliche Literatur, mit allerlei Ausschmückungen und Erklärungsversuchen. Im übrigen gibt es zwei eindeutigen Indizien, daß die Kreuzigung keine Tötung war, wurde doch das Osterfest ursprünglich (u.a. durch die sogenannten Quartodezimaner in Kleinasien) insgesamt am Karfreitag gefeiert, und zwar Kreuzigung, Beisetzung und Wiederauferstehung – alles am selben Tag! Was nie und nimmer der Fall gewesen wäre, wenn die Kreuzigung als Tötung gegolten hätte, denn die Auferstehung sollte ja am dritten Tag nach dem Tod erfolgen. Tatsächlich aber fiel der Karfreitag als Kreuzigung und zugleich Auferstehungstag am dritten Tag nach dem Mittwoch, an dem die Gefangennahme Jesu begangen wurde: Was wiederum nicht der Fall hätte sein können, wenn die Gefangennahme ursprünglich nicht zugleich Jesu Ermordung gewesen wäre. Da zeigt die erste, von alexandrinischen Berechnungen noch unverfälschte Tradition ein längeres Gedächtnis als die späteren Verwischer. Das zweite Indiz ist der Koran, der, wie meine muslimischen Freunde behaupten (man sollte überprüfen), noch weiß, daß Jesus nicht gekreuzigt wurde. Woher kommt denn dieses Wissen, wenn nicht aus einer fruheren Tradition?
Was die Steine im sogenannten Heiligen Land angeht, an die der Rezensent sein Ohr anlegen will, um zu hören, was sie sagen: Sie sprechen wohl zuerst die Sprache ihrer Erbauer: Die Klagemauer jene des Herodes, der den Tempel, dessen Rest sie darstellt, aufbaute: Herodes, kein Jude (Vater Idumäer, Mutter arabische Fürstentochter), Julius seines Namens (der Vater war von Caesar hochstpersönlich adoptiert worden), und König von Judäa von Roms Gnade. In jenem Tempel stationierte nach dem jüdischen Krieg und der Tempelrückeroberung durch Titus (ab 70 n. Chr.) die X. Legion, die einstige Praetoria Caesars. Und die Via dolorosa stellt auch im Namen nichts anderes dar, als das pendant zur Via sacra, der römischen Triumphalstraße. Wie der Freund des Rezensenten ihm eingangs schon sagte: Die Reise nach Jerusalem kann er kürzer haben: Divus-Julius-travels nach Rom, zwar nicht „im rundesten seit tausend Jahren“ aber immerhin rund 2100 Jahre nach der Geburt des Divus Julius – Zwischenstation im wunderschönen Ravenna, dem wahren Nazareth, (RA-VE-NA <|> NA-ZE-RA) nicht versäumen!



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